Die Predigt eines chinesischen Justizbeamten

Abduweli Ayup

 

Während meiner Zeit im Gefängnis kam ich nach und nach zu der Erkenntnis, dass ich perfekt in das Bild passte, das man in chinesischen Kriminalromanen von einem uigurischen Verbrecher zeichnet. Allein die Tatsache, dass ich in Amerika und in der Türkei studiert hatte, machte mich zu dem idealen Protagonisten ihrer eigenen, politisch angehauchten Kriminalgeschichte. Dass ich vorgab, die Rechte der Uiguren zu verteidigen, und mich dabei auf die chinesische Verfassung und die Autonomiegesetze berief, hielten sie für bloßen Vorwand. Mit meinen Schriften und Vorträgen über den Schutz der Muttersprache wollte ich ihrer Meinung nach nichts anderes erreichen als das uigurische Selbstbewusstsein zu stärken. 

 Ein chinesischer Justizbeamter erklärte mir, dass die westlichen Länder, allen voran Amerika, von einer kleinen Gruppe von Separatisten über die Situation der Uiguren in die Irre geführt worden seien. Die versuchten nämlich der Welt weiszumachen, dass die Uiguren sich unterdrückt und unzufrieden fühlen. Und sobald sich irgendwo im Land Widerstand regt, wiederholt die Regierung beharrlich diese Theorie. Sie fragt sich aber nie, warum die Uiguren seit 1949 nicht müde werden, zu Demonstrationen aufzurufen, obwohl sie doch angeblich seit den Reformen und der Öffnungspolitik so zufrieden sind. China leugnet einfach jegliches Problem und verstärkt weiter den Druck auf all diejenigen, die unzufrieden sind. Einer von ihnen war ich: ein unzufriedener Umstürzler, der vorgab, nur die uigurische Sprache schützen zu wollen.

  Während meines Prozesses stellte sich heraus, dass mein Aufenthalt in Amerika der Hauptgrund für die Anklage war. In den Verhandlungen wollte man immer wieder wissen, wie ich meine separatistischen Machenschaften vorbereitete; welche Organisationen mich nach China zurückgeschickt hatten und aus welchem Grund. Sie wollten alles detailgenau wissen, fragten sogar, wer mich vom Flughafen abgeholt hatte, als ich in den Vereinigten Staaten ankam, wo ich untergebracht war, was ich tat und mit wem ich mich traf.

 

Der Gerichtsvorsitzende An Zhang Kun, der mich schon in Kashgar verhört hatte, erklärte mir einmal:
„Amerika versucht, mein Land zu spalten. Bisher hatten sie drei Trümpfe in der Hand: Tibet, Taiwan, und Tian’anmen, aber das reichte ihnen nicht mehr und deshalb benutzen sie nun einen vierten: die Uiguren. Amerika unterstützt die separatistischen Bestrebungen der Uiguren. Amerikanische Demokratiefonds sorgen für die Geldmittel, Radio Free Asia für die Verbreitung, der Weltkongress der Uiguren und die Islamische Ostturkestan-Partei für die institutionellen Rahmenbedingungen.

  China schaut auf eine mehr als 5000-jährige Geschichte zurück, während Amerika gerade einmal zweihundert Jahre alt ist. Seine Stärke beruht nicht auf Kultur, sondern auf Technik. Technik ist eine Waffe, eine Methode. Wenn eine Nation nur Technik, aber keine Kultur besitzt, bedeutet das, dass sie eines Tages aufhören wird zu existieren. Wenn das Wasser fort ist, bleiben die Steine. Wenn Länder verschwinden, bleibt nur die Kultur. Viele Könige sind dahingegangen, doch die chinesische Kultur entwickelt sich immer weiter. Wenn sich die Uiguren nun zwischen Waffen und Kultur entscheiden müssen, sollen sie dann nicht lieber 5000 Jahre Kultur wählen anstatt 200 Jahre Technik? Amerika hat mit seinen Waffen unzählige Muslime hingeschlachtet. Also, wenn die Uiguren überleben wollen, dann sollten sie sich mit Kultur wappnen und nicht mit Technik. Im Augenblick sieht es vielleicht aus, als wollte dir Amerika helfen, aber es ist ein christliches Land und dort hasst man Muslime. Das war schon immer so. Erst geben sie vor zu helfen, aber dann versuchen sie, dich zu bekehren. Amerikas Ziel ist es, alle Muslime mit ihren Waffen zu vernichten, sie mit ihrem Geld zu christianisieren und mit ihrer korrupten Verderbtheit von der Erde zu tilgen. Deshalb stehen alle muslimischen Länder auf unserer Seite. Deshalb haben wir keinerlei Konflikte mit muslimischen Staaten. Der große Fehler der Uiguren ist, dass sie sich von Amerika und Demokratie betören lassen, denn dahinter steht ein Westen, der Terrorismus, Separatismus und Extremismus fördert. Sie sollten stattdessen lieber versuchen, mit der chinesischen Kultur zu verschmelzen, denn sie steht in Einklang mit dem Islam. Das uigurische Volk muss endlich wach werden! Es muss wie alle muslimischen Länder der Welt zu uns halten und gemeinsam mit uns die Aggression und Evangelisierung des Westens bekämpfen. Das uigurische Volk steht im Moment einsam und allein da, weil du zu Amerika hältst, zu einem Feind des Islam, und dich gegen China stellst, das der beste Freund der Muslime ist.

  Die Türkei hat die Uiguren schon von jeher betrogen und auch jetzt lassen sich manche Uiguren durch ihren zur Schau getragenen Islam täuschen. Die Türkei nennt sich zwar ein muslimisches Land, ist aber in Wirklichkeit schon vom Gift der Demokratie befallen und daher sind dort Prostitution und Christentum legal. In dieser Beziehung passen wir also viel besser zum Islam: Wir dulden nicht Prostitution, Homosexualität, westliche Demokratie und Freiheit.”

 

Daraufhin rezitierte er einige Koranverse und erklärte sie mir, denn damit glaubte er wohl, mir ein Argument gegen Judentum, Christentum und Homosexualität zu liefern. Ich hörte seiner Predigt schweigend zu und sagte nichts. Aber bei mir dachte ich: Da haben sie ja einen perfekten Weg gefunden, die Uiguren zu täuschen. Ich hatte es bisher nie für möglich gehalten, dass es den Chinesen gelingen könnte, Uiguren an der Nase herumzuführen, doch nach dieser Predigt war ich mir nicht mehr so sicher. Es war nicht leicht, darin einen Fehler zu finden, und jemand, der keine Zeitung liest und nicht weiß, was in der Welt vorgeht, könnte sich leicht von An Zhang Kuns Worten überzeugen lassen.

  Ich erinnere mich Wort für Wort an diese Predigt. Als ich sie zum ersten Mal hörte, war ich einfach nur verblüfft, aber heute schaudert es mich, wenn ich daran denke, denn einige meiner uigurischen Zellengenossen dachten genauso über Demokratie, Freiheit und Amerika wie An Zhang Kun.

Im Deutschen bearbeitet von Ingrid Widiarto