Vor Gericht

Abduweli Ayup

 

Nachdem ich wegen des Amuletts von meinen Zellengenossen verprügelt worden war, hatte ich nicht nur meine Brille verloren, sondern auch die Farben, die mir das Leben bis dahin ein wenig erleichtert hatten. Im Gefängnis sind die Wände weiß, die Lüftungsrohre grau und die Kleidung so aschfahl wie Zement. Aber mit meiner Brille hatte ich zumindest einmal am Tag auch grüne, blaue, gelbe und purpurne Farben sehen können, denn jeden Abend nach dem Essen gab es im Fernsehen zwei Stunden lang Propagandafilme. Ich konnte es kaum erwarten, bis die Erkennungsmelodie von CCTV ertönte, denn sie klang mir wie ein Gruß aus dem wirklichen Leben.

   Eigentlich hasste ich dieses Ta-ta-ta, das die Nachrichtensendung einleitete, weil mir der geisttötende Unsinn von Propagandasprüchen mehr als zuwider war. Und dann erst die Berichte über all die Großartigkeiten, die in China vorgingen! Über die chaotische, grausame Welt draußen und über die wichtige Rolle, welche die chinesische Regierung heutzutage in jener chaotischen, grausamen Welt spielte. Und dennoch: Wenn man monatelang in einer Gefängniszelle lebt, dann können diese Nachrichten einen daran erinnern, dass es irgendwo da draußen noch immer Berge, Flüsse und blühende Gärten gibt.

   Ohne Brille mehr sah ich nur noch einen Rahmen, nicht die Filme. Jeden Tag hörte ich die roboterhaften Stimmen chinesischer Diktatoren aus diesem Rahmen sprechen, so wie aus einem Radio, und erst jetzt merkte ich, wie schlecht meine Augen geworden waren, seitdem ich im Gefängnis war. Die großen Buchstaben der Hausordnung, die an die Zellenwände geschrieben standen, waren für mich zu einem dünnen, unentzifferbaren Strich geworden.

 

Anfang Oktober 2014 wurde ich dann plötzlich vor Gericht zitiert, ebenso wie meine beiden Freunde und Mitstreiter Memetsidik und Dilyar. Ich hoffte, bei dieser Gelegenheit auch meine Mutter, meine Frau und andere Verwandte wiederzusehen. Zwar war es mir etwas peinlich, mich ihnen mit meinem unrasierten, trübsinnigen Gesicht und in der hässlichen, düsteren Gefängniskleidung zu zeigen, aber andererseits wünschte ich mir nichts mehr, als dass sie kämen. Und vor allem hoffte ich, dass es mir irgendwie gelingen könnte - vielleicht mit Hilfe des netten kasachischen Aufsehers - meinen Bruder wissen zu lassen, dass ich eine neue Brille brauchte. Jedenfalls war ich vor Freude und Erwartung so aufgeregt wie nie. In den letzten drei Monaten hatte ich immer nur Toilettengestank, Schweiß und modrige Feuchtigkeit gerochen, nicht ein einziges Mal frische Luft, und meine Augen hatten nur Gefängniswärter, Fesseln und Häftlinge gesehen, aber nie einen Baum oder eine Blume.

   Es machte mir nichts aus, dass sie mir die Hände fesselten, die Füße fesselten und die Hände an die Füße fesselten, so wie sie es immer taten. Vielleicht gewöhnt sich der Mensch ja an alles. Schließlich hatte ich es schon oft genug erlebt.

   Dieses Mal brachte man uns drei getrennt zum Gericht. Jeder von uns wurde von zwei Polizisten geführt, Kopf und Schultern zu Boden gedrückt, als ob wir jeden Augenblick einen Fluchtversuch machen wollten. Da ich keine Brille mehr hatte, sah ich kaum etwas, nicht im Auto, nicht in den Fluren, nicht im Gerichtssaal. Ich konnte einige Gestalten erahnen, aber niemanden erkennen.

   Dann begann der Prozess. Ein Staatsanwalt war da, aber kein Verteidiger. Memetsidik verteidigte sich und unsere gemeinsame Arbeit und das tat er großartig. Er hatte sich sehr sorgfältig vorbereitet. Danach kam ich an die Reihe und dann Dilyar. Es war mucksmäuschenstill im Gerichtssaal. Der Richter hörte aufmerksam zu, unterbrach uns nicht ein einziges Mal, und am Ende fragte er, ob wir noch etwas zu sagen hätten. Dilyar meldete sich zu Wort. Er sprach laut und deutlich. Er anerkannte, dass der Richter, der Staatsanwalt und alle Beteiligten fleißig und gründlich gearbeitet hätten, dass sie aber allein der Politik und nicht dem Gesetz gehorcht hätten. Vielleicht, so hoffte er, würde irgendwann ein Tag kommen, an dem das Gesetz über alles andere herrscht.

   Und ganz zum Schluss, bekam ich noch einmal die Gelegenheit zu sprechen und ich erklärte dem Richter, dass ich seit mehr als einem Jahr im Gefängnis einsäße und mir nichts mehr wünschte, als zu sehen, wer von meiner Familie zum Prozess gekommen sei. Da man aber meine Brille zerschlagen habe, könne ich niemanden erkennen. Wenn ich eine neue Brille bekommen könnte, würde ich liebend gern einmal meine Familie sehen.

   Sofort hörte ich die erstickte Stimme meines älteren Bruders: „Abduweli, mein Bruder, ich bin hier. Ich bringe dir eine Brille.“ Ich schaute mich um und sah einen Schatten auf mich zukommen, aber da schubste mich einer meiner chinesischen Wächter auch schon zum Ausgang und der andere brüllte meinen Bruder an: „Rühren Sie sich nicht von der Stelle! Wir erlauben Ihnen nicht, ihm die Brille zu geben.“ Doch da donnerte der uigurische Richter ärgerlich über alle hinweg: „Es ist meine Entscheidung, ob er die Brille bekommt oder nicht. Geben Sie sie ihm!“ Ich war total verblüfft, dass dieses eine Mal die Entscheidung eines Uiguren Gewicht hatte und dass die Gerechtigkeit siegte. Ich war überglücklich – fast so, als hätte ich den Prozess gewonnen.

Im Deutschen bearbeitet von Ingrid Widiarto