Das Geheimnis der Verhöre

Abduweli Ayup

 

Im Gefängnis von Kashgar war ich schon viele Mal verhört worden, aber in Urumchi wollten die Verhöre schier kein Ende nehmen. Jetzt ging es jedoch weniger um die Frage, warum ich einen uigurischsprachigen Kindergarten gegründet hatte, sondern um Betrug und Missbrauch öffentlicher Gelder. Anderthalb Monate lang war hiervon keine Rede gewesen, aber nun konzentrierte sich die ganze Fragerei mehr und mehr auf dieses Thema.

Es gibt in chinesischen Gefängnissen viele Verhörmethoden. Ich weiß nicht, ob ich sie alle erlebt habe, aber zumindest sehr viele: mit Drohungen, mit Schlägen, mit Schmeichelei und intriganten Versprechungen, mit Schlafentzug, grellem Scheinwerferlicht und endlosen Wiederholungen, bis einem das Hirn im Kopf warmläuft oder bis zur totalen physischen und psychischen Erschöpfung:

Warum bist du aus Amerika zurückgekommen?

Wer hat dich geschickt?

Warum warst du in der Türkei?

Wer hat dich dort abgeholt?

Wen kennst du in Amerika?

Was hast du in der Türkei gemacht?

Warum wolltest du die muttersprachliche Erziehung fördern?

Warum in der Gesellschaft darüber sprechen?

Was hast du zu diesem Thema geschrieben?

Wo hast du Vorträge gehalten?

Zu welchen Themen?

An welchen Orten?

Wie viele Schulen hast du gegründet?

Welche Kindergärten?

Mit wem hast du deine Aktivitäten geplant?

Wie finanziert ihr sie?

Wozu dient eure Firma?

Was ist euer Ziel?

Kennst du Uiguren in Amerika?

Wer sind deine Hintermänner?

Wer hat Spenden gezahlt?

Wofür genau?

Was ist wirklich euer Ziel?

Unabhängigkeitsdenken in der Bevölkerung zu fördern?

Separatismus?

Immer die gleichen Fragen. An verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten, mit verschiedenen Personen, verschiedenen Methoden, aber immer die gleichen Fragen. Nach sieben Monaten hatte mein Rechtsanwalt mit den Protokollen zwölf Aktenordner gefüllt.

  

Zuerst hatte man mich beschuldigt, mit der Förderung meiner Muttersprache ein Unabhängigkeitsdenken in der Bevölkerung verbreiten zu wollen. Ich provoziere die Uiguren, bis es wieder zu Ausschreitungen wie am 5. Juli 2009 in Urumchi kommt. Mein Unternehmen habe separatistische Ziele. Meine Arbeit, meine Vorträge, Spendensammlungen und die Gründung von Schulen und Kindergärten seien nur eine Vorbereitung für mein eigentliches Ziel, nämlich Xinjiang zu einem unabhängigen Staat zu machen.

„Ist es so? Gesteh!“

„Gib es zu und wir lassen dich in Ruhe. Keine weiteren Verhöre. Versprochen.“

„Gesteh!“

Die Verhöre raubten mir alle Kraft. Man holte mich bei Tag und bei Nacht. Man fragte und fragte und die Versuchung war groß, irgendeine der Fragen mit Ja zu beantworten, damit sie endlich aufhörten, Fragen zu stellen. Es wäre ganz leicht gewesen. Aber ich versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren, denn mir war schon bald klar geworden, dass diese Nerv tötende Fragerei nur das Ziel hatte, einen Grund für eine Verurteilung zu finden, einen Grund, der vor dem Gesetz standhielt. Denn weder die Förderung der Muttersprache noch die Gründung eines privaten Kindergartens war illegal und konnte daher nicht als Urteilsbegründung dienen. Sie brauchten etwas anderes. Zum Beispiel: Aufruf zu Separatismus, Versuch, die Regierung zu stürzen, Diffamierung Chinas gegenüber dem Ausland, Verrat von Staatsgeheimnissen, Steuerhinterziehung, Veruntreuung öffentlicher Gelder.

Sie hatten Übung darin. Ich war überrascht, wie groß meine kleine Sache aufgebauscht wurde. Ich hatte keine Ahnung gehabt, was man mir alles vorwerfen könnte. Doch was immer sie auch fragten, ich sagte: Nein! Sie hatten einen ganzen Katalog von Vergehen, die man uigurischen Gefangenen vorwerfen konnte, und sie wollten unbedingt, dass eines davon auch auf mich zutraf. Ich sollte es nur endlich zugeben. Da ich aber nichts zugeben wollte, nahmen die Verhöre kein Ende.

So beschäftigten sie sich beharrlich weiter mit mir, Tag für Tag und beinahe jede Nacht. Wenn ich aber etwas gestehen würde, um eine Nacht durchschlafen zu können, so sagte ich mir, dann gäbe es kein Zurück. Dann hätte ich vielleicht einige Tage und Nächte Ruhe – aber danach?

 

Einer der Schlimmsten unter den Gefängnisleuten war ein gewisser Mokhtar. Seinem Akzent nach musste er aus Kashgar stammen, ebenso wie ich. Aber, oh Schande, aus seinem Mund kam nichts als Scheiße. Mir drehte sich der Magen um, wenn ich diesen Mann aus Kashgar sprechen hörte. Er konnte nur fluchen, schimpfen, geifern. Wie war er nur so geworden? Was hatte ihn so bösartig werden lassen? Er sah immer ein wenig schläfrig aus, wusste aber alles. Nichts entging ihm. Er saß irgendwo und belauschte alle und alles.

Eines Nachts stand Mokhtar an meiner Zellentür:

„Wach auf!“

Ich folgte ihm in den Verhörraum und ließ mich auf den „Tigerstuhl“ schnallen: Hals, Hände und Füße wurden mit Riemen festgezurrt, so dass ich Stunde um Stunde sitzen und antworten musste, ohne mich im geringsten bewegen zu können.

„Was fällt dir eigentlich ein, uns zum Narren zu halten?“, wetterte Mokhtar mit seiner widerwärtigen Stimme. „Wir fragen und du sagst Nein. Jedes Mal sagst du Nein. Denkst du etwa, die Regierung ist blöd? Denkst du, wir haben dich ohne Grund verhaftet? Wir wissen ganz genau, was du verbrochen hast. Also gesteh endlich! Sag, welchen Plan du hast. Wer hilft dir? Was hast du vor? Was machst du mit dem Geld? Denkst du, wir haben dich extra aus Kashgar herfliegen lassen, damit du uns auf der Nase herumtanzt? Wir wissen alles! Du sagst Nein, aber wir wissen trotzdem alles. So, und jetzt werde ich es dir eins nach dem anderen aus der Nase herausziehen!“

Er springt wie eine wilde Bestie auf mich zu.

Ich lasse mich nicht erpressen. Ich behalte einen klaren Kopf. Ich höre nicht auf ihn. Ich habe nichts zu gestehen...

„Deine beiden Kumpane haben gestanden. Also, warum schweigst du noch? Gib alles zu!“

„Was?“

Mukhtar schäumt.

Ich bleibe fest. Wenn ich jetzt anfange, etwas zu gestehen, dann wird es nie ein Ende nehmen. Dann werden sie mich immer weiter hineintreiben in einen Weg der Lügen, in ein Gespinst aus Unwahrheit und nicht begangener Verbrechen, aus dem ich nie wieder herauskomme. Dann werden sie mich in genau das Bild hineinpressen, das sie sich für mich ausgedacht haben, nämlich:

Ich bin ein Rebell.

Ich habe im Ausland mächtige Hintermänner.

Ich habe auch hier viele Anhänger.

Ich bin ihr Anführer, ein Aufwiegler.

„Wenn du gestehst, ist das Verhör beendet“, säuselt Mukhtar. „Dann kannst du schlafen gehen und in Ruhe auf deine Bestrafung warten.“

„Nein.“

Verhöre, Drohungen, Schläge, Schlafentzug, pausenlose Überwachung, das alles war mir mit der Zeit so vertraut geworden, dass es mich nicht ins Wanken bringen konnte. Gott sei Dank, ich habe meinen klaren Kopf behalten und bin ihnen nicht in die Falle gelaufen, obwohl der mit Kashgar-Akzent keifende Mokhtar, der nuschelnde Chinese An Jingkuen und der Chinesisch sprechende Akbar alles versucht haben, was ihnen einfiel – ich habe es überstanden.

 

Wenn ich heute darüber nachdenke, so kann ich nur über die Stärke der menschlichen Seele staunen: Sie kann alles ertragen. Sie ist wie eine Pflanze, die im Winter eingeht und im Frühling von neuem austreibt und aufblüht. Sie ist bereit für ein neues Leben. Wenn ein Mensch eine schwierige Zeit überlebt, dann wird sich die Wunde schließen und mit der Zeit heilen. Wäre ich aber bei den Verhören eingeknickt, hätte ihren Tricks nachgegeben und ein Verbrechen eingestanden, das ich nicht begangen habe, so wäre ich nie wieder aus dieser Hölle herausgekommen. Dann wäre ich immer tiefer hineingerutsch in diesen Abgrund aus Lügen und Hass, hätte vielleicht andere mit hineingezogen...
Wer weiß, was dann aus mir geworden wäre?  

Aus dem Uigurischen von Nijat Hushur und Ingrid Widiarto