Gefängnisalltag

 Abduweli Ayup

 

Im Gefängnis von Urumchi gibt es einen Gefängnisdirektor, seinen Stellvertreter, einen Sekretär, einen Gefängnispolizisten und zwei Köche. Sie bilden die Führungsschicht, auch die beiden Köche gehören dazu. Ihnen untergeordnet sind die Gefängniswärter, die wiederum ihre eigene Hierarchie haben, und dann kommen die kriminellen Gefangenen. Ganz unten in der Rangfolge stehen die politischen Gefangenen. Sie sind der letzte Dreck.

Der Tagesablauf ist bis in jedes Detail geregelt und alles wird bis in jedes Detail kontrolliert. Alles: das Essen, das Austreten und Aufstehen, das Toilettenpapier, das Waschen, die Turnübungen, das Aufräumen, das Still-Sitzen, das Fernsehen, das Schlafengehen. Nur atmen und denken kann jeder für sich. Einmal am Morgen und einmal am Abend erscheint der Gefängnisdirektor, um nach dem Rechten zu sehen, und einmal am Morgen und einmal am Abend wird zum Appell gerufen. Ab 17 Uhr haben wir Freizeit. Dann dürfen wir im Gemeinschaftsraum sitzen und auf den kleinen, flimmernden Fernseher gucken, auf dem es nur einen Sender gibt und auf diesem Sender gibt es nur Propagandafilme, Propagandaberichte und Propagandawerbung.

Jeder Häftling wird jede Minute des Tages überwacht. Wenn nicht durch die Wärter, die alles penibel protokollieren, dann durch andere Gefangene, die sich mit den Wärtern gutstellen und hier und da eine Vergünstigung erhaschen wollen. Einige gibt es, die es sich regelrecht zur Aufgabe gemacht haben, andere anzuschwärzen. Die Freude daran haben, etwas nach oben petzen zu können, und dann dafür als Belohnung die Erlaubnis bekommen, den Übeltäter eigenhändig zu bestrafen. Nach oben buckeln, nach unten treten. Ich nenne sie die Arschlecker.

Abgesehen von der täglichen Anwesenheitskontrolle kümmern sich die Führungsleute nicht um das Geschehen im Zellentrakt. Sie haben ihren Arbeitsbereich weit weg, in der Nähe des Ausgangs, wo die Luft gesünder ist als bei uns. Nach der täglichen „Bestandsaufnahme“ kehrt der Direktor zurück in sein Büro, wo er sich erholen und schlafen legen kann, wann immer ihm danach ist. Oder er lässt jemanden zu sich kommen und erteilt Befehle. Oder er lässt den Sekretär Essen bestellen. Diese Leute essen nämlich nicht das, was die Köche für die Gefangenen kochen, sondern gutes, teures Essen, das aus dem Etat der Gefängnisverwaltung bezahlt wird. Der stellvertretende Direktor sagt zu allem Ja. Er ist ein Arschlecker auf höherer Ebene. Der Sekretär führt über alles Protokoll, weiß alles und berichtet alles. Die beiden Köche, die für unser Essen zuständig sind, umsorgen den Direktor mit allem, was er sonst noch wünscht, zum Beispiel ein erfrischendes Fußbad, saubere Handtücher, einen warmen Tee und andere kleine Wohltaten.

Zwischen denen, die oben stehen, und denen, die unten stehen, bin ich. Mir wurde nämlich der Posten des Dolmetschers auferlegt, weil ich gut Chinesisch spreche, während die meisten Gefangenen es nur sehr schlecht oder gar nicht können. Und da die uigurische Sprache im Gefängnis verboten ist, wird für alle Verhöre, alle Maßregelungen und einfach alles, was zwischen den Gefangenen und den Wärtern oder der Führungsebene gesprochen wird, ein Dolmetscher benötigt. So bin ich pausenlos im Einsatz. Niemand im ganzen Gefängnis arbeitet so viel wie ich. Außerdem ist es die undankbarste Aufgabe, die man sich vorstellen kann, denn die einen sehen in mir den politischen Gefangenen, also den letzten Dreck, und die anderen den schlimmsten aller Arschlecker, der die Mächtigen hofiert. Die einen verachten und die anderen hassen mich.

Ich fühle mich erbärmlich in dieser Funktion, die ich nicht erbeten habe. Ich muss es ertragen und lerne dabei mehr über menschliches Verhalten, als mir je lieb gewesen wäre. Mit der Zeit durchschaue ich all die Praktiken, die offenbar zum üblichen Tagesablauf in einem Gefängnis gehören.

Da es so viele Personen gibt, die Befehle erteilen, und so viele Vorschriften und Verbote jede Kleinigkeit regeln, und da alle diese Vorschriften und Verbote so umfangreich und detailliert sind, kann man es beinahe gar nicht vermeiden, Fehler zu machen. Das gilt natürlich besonders für Neuankömmlinge. Ich sehe es, kann aber nichts tun. Ich sehe zu, wie sie praktisch gezwungen sind, etwas falsch zu machen und sich dafür Prügel einzuhandeln. Es ist mir ein Horror. Ich möchte es nicht sehen, aber ich muss es sehen. Ich bin ja der Dolmetscher und stehe immer dabei. Ich kann nicht weglaufen. Mein Kopf hämmert, mein Herz weint. Mir ist, als würde es zermalmt zwischen tonnenschweren Felsbrocken, die niemand von mir nehmen kann.

 

An einem Tag Ende 2013 wurde ein junger Mann eingeliefert. Sein Verbrechen bestand darin, dass er dreitausend Dollar auf ein Konto in Thailand überwiesen hatte. Er war einige Jahre in Zentralchina gewesen und hatte dort als Bäcker sein Geld verdient. Jetzt wirkte er irgendwie verschüchtert, sah dürr und kränklich aus. Da er ein „Politischer“ war, erschien auch der Gefängnisdirektor zum Verhör und die erste Frage, die er ihm stellte, lautete:

„Wo warst du am 5. Juli 2009?[1]

„Ich war in Urumchi.“

„Wo genau?“

„In der Nähe des großen Basars.“

Kaum hatte ich diese Antwort übersetzt, knurrte jemand: „Schlagt!“ Der Direktor verließ den Raum und der Junge wurde mit Schuhen geprügelt und mit Füßen getreten, bis er zusammengekrümmt und blutüberströmt am Boden liegen blieb. In diesem Moment schaute der Gefängnispolizist zur Tür herein. Augenblicklich stellten sich alle Prügler und Treter in Reih und Glied an der Wand auf, um ordnungsgemäß Bericht zu erstatten.

„Was ist hier los?“, fragte der Polizist in scharfem Ton. „Was hat er getan?“

„Er hat gebetet.“

Da schrie mich der Polizist wütend an: „Wieso wusste er nicht, dass man im Gefängnis nicht beten darf? Hast du ihm denn nicht die Regeln der Hausordnung übersetzt? Was hast du dir dabei gedacht? Sieh dir an, was du angerichtet hast! Sieh ihn dir an!“

„Ich hab ihm alles übersetzt...“ Weiter kam ich nicht. Meine Erklärung interessierte niemanden. Der blutende junge Mann wurde auf einen Stuhl gezerrt und an Händen und Füßen gefesselt. So blieb er sitzen. Als ihm zur Abendessenzeit ein Teller Suppe vorgesetzt wurde, rührte er sich noch immer nicht. Nun, die Suppe war so dünn, dass es sich kaum lohnte, sie zu essen, und das steinharte Brot war auch kein Genuss, aber vielleicht wusste er auch einfach nicht, wie man es fertigbringen sollte, mit gefesselten Händen Suppe zu essen. Deshalb wollte ich ihm helfen. Wenn nämlich ein Häftling sein Essen nicht anrührt, gilt das als Hungerstreik und das ist aufs strengste verboten und wird hart bestraft.

Ich setzte mich neben ihn.

„Soll ich dir helfen?“, fragte ich leise auf Uigurisch und nahm die verbeulte Blechschüssel auf.

Da schaute er mir in die Augen und zischte mich an:

„Verräter! Was hast du dem Polizisten gesagt? Warum hast du falsch übersetzt?“

Ich war wie vor den Kopf gestoßen.

„Und als sie mich schlugen, hast du weggeguckt. Du hast sogar zugelassen, dass sie mich an einen Stuhl fesseln. Schäm dich! Du bist doch auch ein Uigure.“ Als ich noch immer nichts erwiderte, schnaubte er verächtlich:

„Du isst ja sogar ihr unreines Essen, pfui!“ Dann drehte er den Kopf zur Seite.

Ich war noch immer sprachlos. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte nichts Falsches getan, aber das konnte er ja nicht wissen, weil er kein Chinesisch verstand. Wie sollte er auch auf den Gedanken kommen, dass man dafür verprügelt wird, dass man am 5. Juli 2009 in Urumchi war? Das musste doch jedem vernünftigen Menschen absurd vorkommen.

Ich sah mich unauffällig im Raum um. Zum Glück hatte niemand etwas mitbekommen, weil die anderen Gefangenen schon aufgegessen hatten und auf den Fernseher starrten. Zum Glück, denn hätten einige der Arschlecker die Szene beobachtet, dann wäre der arme Junge noch einmal nach Strich und Faden verprügelt worden.

Ich stand auf. Ich zitterte am ganzen Körper, verschüttete die Suppe, aber sprechen konnte ich nicht. Wie gern hätte ich ihm alles erklärt! Wie gern hätte ich ihm gesagt, dass es gar keine Rolle spielt, was ich übersetze, weil ein uigurischer Gefangener grundsätzlich bestraft wird, egal wofür. Man muss nicht lange nach einem Grund suchen. Gründe gibt es in Hülle und Fülle und zur Not geht es auch ohne Grund. Wenn ich gelegentlich einmal versucht hatte, einen Sachverhalt richtigzustellen, dann wurde ich der Falschaussage bezichtigt und bekam selbst meine Prügelstrafe. Ich habe es oft genug erlebt.

Ich hätte dem jungen Mann noch so vieles sagen mögen, doch wenn jemand gehört hätte, dass wir miteinander Uigurisch sprechen, wäre alles noch viel schlimmer gekommen. Die Arschlecker warteten ja nur auf eine Gelegenheit.

 

Meine Seele war immer in Aufruhr, solange ich im Gefängnis war. Tag und Nacht, viele Monate lang quälte mich die Ungerechtigkeit, die ich hilflos mitansehen musste, aber eine Wahl hatte ich nicht. Niemand im Gefängnis kann Nein sagen – nur der Gefängnisdirektor.

 

Aus dem Uigurischen von Nijat Hushur,

 im Deutschen frei bearbeitet von Ingrid Widiarto



[1] Am 5. Juli 2009 gab es in Urumchi eine große Demonstration, bei der es zu Ausschreitungen und Blutvergießen kam.