Meine Mutter erinnert sich

Abdushukur Qumtur

 

Meine Mutter wurde zweiundachtzig Jahre alt. Als ich von ihrem Tod erfuhr, hatte ich nichts als meine Tränen. Ich hatte keine Kraft, Gefühle zu fühlen und Gedanken zu denken. Es war, als hätte ich meine Vergangenheit verloren.

Dreizehn Jahre lang hatte ich nicht ihr vertrautes, warmes Gesicht sehen können, weil es für mich zu gefährlich war, nach China zurückzukehren, und nun konnte ich nicht einmal ihr kaltes Gesicht sehen. Ich konnte nur beten, dass sie sich auf dem Weg ins Paradies befand. Aber das war sie ganz gewiss, denn sie hatte immer zwei Schätze gehabt, die sie durch die schwere Zeit ihres Lebens begleitet hatten: ihren festen Glauben an Allah und ihre Bücher. Bücher hatte sie sehr geliebt. Sie waren ihr Trost gewesen, denn sie gingen nicht fort, sie erzählten von Dingen, die sie nicht kannte, waren heiter oder lehrreich. Sie waren bis zum letzten Atemzug ihr treuer Begleiter gewesen, wie Verwandte mir später erzählten.

Die Seiten, die ich jetzt schreibe, kann meine Mutter nicht mehr lesen, doch ihre Enkel und Nachkommen sollen wissen, an was sie erinnerte, denn es ist ein wertvolles Vermächtnis. Es ist ein Teil der Geschichte unseres Landes und unseres Volkes und es ist wichtig, dass er nicht in Vergessenheit gerät.

 

Die Familie meiner Mutter

Als meine Mutter geboren wurde, herrschte überall Krieg. Die Leute hatten andere Sorgen, als sich um Jahreszahlen und Daten zu kümmern, und so hat sie nie erfahren, wann ihr Geburtstag war. Damals zählte nur das Heute und die Frage, wie man den nächsten Tag überleben und wo man etwas zum Essen finden könnte.

Das Erste, an das sich meine Mutter erinnerte – sie muss damals etwa vier Jahre alt gewesen sein – war die Verhaftung ihres Vaters. In jenen Tagen wurden Hunderte und Tausende von Menschen verhaftet, und das nicht nur in Kucha, sondern in allen Städten Xinjiangs. Es war die Zeit, als Sheng Shicai Gouverneur war, ein mandschurischer Kriegsherr, der eng mit den Sowjets zusammenarbeitete und es Stalin mit seiner "Großen Säuberung" gleichtun wollte: Adlige, Intellektuelle, religiöse Persönlichkeiten, reiche Geschäftsleute, die gesamte Oberschicht wurde aus der Gesellschaft entfernt. Nur wenige kamen zurück.

In den Archiven von Kucha findet sich umfangreiches historisches Material über diese Zeit, das detailliert belegt, wie sehr Shengs Herrschaft von der Unterdrückung und Folter der einheimischen Bevölkerung geprägt war. Im Jahre 1935 waren Trupps von Reitersoldaten kasachischer, kirgisischer und uigurischer Herkunft aus der Sowjetunion nach Kucha geschickt worden und ab dem 24. März 1936 nahmen sie drei Tage und drei Nächte lang unter dem Kommando des Polizeichefs Züpär und seines Assistenten Ömerup ungezählte Verhaftungen vor. Die Listen der Gefangenen sind lang. Auf einer dieser Listen steht an einundzwanzigster Stelle der Name Abdurehim Qari, Sohn des Zunun Qari aus Kashgar. Abdurehim Qari war der Vater meiner Mutter, mein Großvater, und Zunun Qari mein Urgroßvater.

Er war als Zununaxun qänchi, der Zuckermacher, bekannt gewesen, denn er hatte in Kashgar ein Geschäft zur Zuckerherstellung gehabt, und um diesen Zucker zu verkaufen, reiste er mit Kamelkarawanen von Ort zu Ort, bis er um 1910 nach Kucha kam und sich dort niederließ.

 

Der Vater meiner Mutter

Meine Mutter wusste nicht viel über ihren Vater. Er war so früh aus ihrem Leben gegangen, dass die Erinnerungen kein klares Bild mehr gaben. Später war es von dem des Großvaters überlagert worden, der die Vaterrolle übernahm, und da damals niemand wagte, über die schlimmen Ereignisse der Vergangenheit zu sprechen, hatte sie ihren richtigen Vater allmählich vergessen. Erst viele Jahrzehnte später erfuhr sie durch Zufall Folgendes:

An einem Morgen begleitete ich meine Mutter zum Basar. Vor der großen Moschee begegneten wir einem alten Mann, der zögernd stehen blieb und uns forschend ansah. „Zaytunixan?“, fragte er leise. „Du bist Zununs Enkelin, nicht wahr? Abdurehims Tochter?“ Meine Mutter und ich schauten ihn verwundert an.

„Ich war lange nicht in der Stadt“, erklärte er, „aber damals, damals habe ich deine Familie gut gekannt.“

Und dann begann er zu sprechen. Ich kann nicht sagen, wie lange wir dort vor der Moschee standen und ihm zuhörten. Zeit löste sich auf in ein Nichts. Minuten und Stunden verloren jede Bedeutung angesichts dessen, was dieser alte Mann zu sagen hatte. Ich weiß noch, wie ich ihm anfangs nicht glauben wollte, denn so etwas konnten Menschen gar nicht tun, dachte ich. Doch da war etwas in seinen Augen, in seiner Stimme, seinem Verhalten, was keine Zweifel duldete. Niemand konnte so etwas erzählen, wenn er es nicht selbst erlebt hat.

„Ich habe deinen Vater gesehen“, begann er. „Sie hatten uns alle in einen Lagerraum gesperrt, irgendwo am Rande der Stadt. Mehr als zwanzig Männer waren da, eng zusammengepfercht, und einer von ihnen war dein Vater.“

Am nächsten Tag hatte man die Gefangenen an Händen und Füßen gefesselt, ihnen die Augen verbunden und einen Sack über den Kopf gestülpt, der um den Hals fest mit einem Seil zugebunden wurde. Anschließend warfen Soldaten sie wie Gepäckstücke auf einen Lastwagen, einen über den anderen.

„Ich konnte nichts sehen“, erzählte der alte Mann. „Ich konnte kaum atmen in diesem stinkenden Sack, aber ich hörte, dass es sehr viele Menschen waren. Es muss noch andere Lager gegeben haben. Die Soldaten prusteten vor Anstrengung, schimpften über die schwere Arbeit, lachten über dicke, dünne oder wimmernde Frachtpakete, und diese Frachtpakete landeten jeweils mit einem dumpfen Plumps auf den anderen. Erstickte Schreie... Ich hatte Glück und war einer der Letzten, so dass ich ganz oben lag und nicht von anderen zerdrückt wurde.“

Dann fuhr der Lastwagen an. Es ruckelte. Die Menschenfracht geriet ins Wanken. Da sich niemand festhalten konnte, rollten die einen über die anderen, stießen sich, zerquetschten und verletzten sich, stöhnten, schrien, weinten. Jede Kurve, jede Unebenheit brachte Höllenqualen. Zu jener Zeit waren die Straßen in Xinjiang nicht asphaltiert, sondern holperig, voller Schlaglöcher und jedes einzelne dieser Löcher bedeutete eine unvorstellbare Qual für die verschnürten Männer auf der Ladefläche. Die Fahrt dauerte Stunden. Stunden voller Angst und Schmerzen. Vielleicht waren die zuunterst Liegenden schon längst erstickt...

„Ich selbst hatte es gut, weil niemand auf mir lag. Ich nutzte diese kleine Freiheit, um an meinen Fesseln zu zerren, vielleicht ein wenig zu lockern, und plötzlich rutschte ich von meinem Platz herunter und in einer Kurve fiel ich auf die Straße. Mein Kopf schlug hart auf, ich spürte einen stechenden Schmerz, aber ich konnte hören, wie der Laster weiterfuhr und sich langsam entfernte – ohne mich.“

Wir alle drei atmeten auf. „Aber die Erleichterung dauerte nicht lange“, fuhr der Mann fort. „Ich hörte einen Reiter nahen. Er blieb stehen, sprang ab und machte sich an meinem Hals zu schaffen. Er zog den Sack fort, riss die Augenbinde ab – und ich blickte in das Gesicht eines Soldaten. Alles verloren! dachte ich. Jetzt bringt er mich um. Aber er schnitt auch meine Hand- und Fußfesseln auf und sagte: ‚Stehen Sie auf – er sagte ‚Sie‘ zu mir! – Verschwinden Sie!‘ Als ich ihn verständnislos anstarrte, schrie er mich an: ‚Verschwinden sollen Sie! Sofort! Und gehen Sie nicht nach Kucha zurück, gehen Sie irgendwohin und leben Sie einfach weiter.‘ Ich wollte ihm danken. ‚Sie haben mich nie gesehen, verstanden? Und nun verschwinden Sie endlich!‘ Ich sprang ins Kornfeld...“

Meine Mutter weinte tagelang. Auf einmal erinnerte sie sich wieder an ihren Vater. Es waren fast fünfzig Jahre vergangen, niemand hatte jemals mehr von ihm gesprochen und nun plötzlich hatte sie erfahren, was mit ihm geschehen war, nachdem ihn die Soldaten abgeholt hatten: Er war wie ein wertloses, altes Bündel auf einem Laster abtransportiert worden.

 

Die Mutter meiner Mutter

Einige Jahre danach gelang es mir, die Mutter meiner Mutter, Abdurehims Frau, meine Großmutter Zaytunixan in Urumchi ausfindig zu machen. In den unruhigen Jahren der Guomindang-Regierung und später unter Mao waren viele Familien auseinandergerissen worden. Väter wurden in ferne Provinzen geschickt, andere ins Arbeitslager oder in den Tod. Mütter kämpften ums Überleben, Kinder kamen aufs Land, manche fanden sich nicht wieder. So hatte auch meine Mutter ihre Mutter irgendwann aus den Augen verloren, und nun endlich, nach vielen Jahren der Trennung, konnten wir sie wiedersehen.

Ihr Rücken war vom Alter gebeugt, das Gesicht von Falten gezeichnet, aber ihr Geist war klar. Sie muss an die neunzig Jahre alt gewesen sein und erinnerte sich an vieles aus der früheren Zeit. Eine Geschichte lag ihr besonders schwer auf dem Herzen:

Nachdem Shicais Soldaten – sie nannte sie ‚die Mörder‘ – ihren Mann abgeholt hatten, musste sie sich allein mit den Kindern durchschlagen. Ihr Vater Zunun, der Zuckermacher, war ihr damals eine große Hilfe, doch nach zwei Jahren begann die Familie sie zu drängen, wieder zu heiraten. In der uigurischen Gesellschaft schickte es sich nicht für eine Frau, ohne Mann zu sein. Zaytunixan weigerte sich, denn sie hatte Abdurehim geliebt und konnte ja gar nicht sicher sein, ob er noch lebte. Es war nie eine Nachricht gekommen. Niemand hatte jemals etwas von ihm oder von den anderen Verhafteten gehört. Alle sagten, er müsse tot sein. Man habe sie alle umgebracht, denn sonst hätte ja irgendwann jemand eine Nachricht bekommen.

Als noch ein weiteres Jahr vergangen war, gab sie nach und heiratete einen Mann, dem sie nach Urumchi folgte, als er dort eine Stelle am Gefängnis fand. Es war kein guter Mann. Schon nach kurzer Zeit schlug er sie. Er trank, er war gehässig, unberechenbar und gewalttätig. Eines Tages kam er volltrunken nach Hause und prahlte: „Heute hab ich deinen früheren Mann gesehen. Ich hab ihm in die Fresse gehauen, bis das Blut spritzte!“

Abdurehim war am Leben! Ich sah, wie meine Großmutter auch jetzt noch litt, als sie dies sagte. Meine Mutter starrte sie voller Entsetzen an: Mehr als drei Jahre hatte ihr Vater also nach der schrecklichen Lastwagenfahrt in einer Gefängniszelle dahinvegetiert, bis ihm ein widerlicher Wärter ins Gesicht lachte, dass er jetzt mit seiner Frau verheiratet war, und ihn demütigen und foltern konnte, so viel er wollte! Meine Großmutter fuhr mit brüchiger Stimme fort: „Ich weinte nur, wenn ich allein war, denn ich hatte furchtbare Angst vor meinem Mann. Wie gut war mein Abdurehim gewesen und was für ein erbärmliches Scheusal dieser Mensch! Er wusste, wie er mich quälte, und sagte immer wieder: ‚Jedes Mal, wenn ich einen Kerl so richtig fertig machen kann, fühle ich mich gut. Besonders diesen... du weißt schon, deinen Ex. Das ist ein herrliches Gefühl!“

Nach fünf Monaten Ehe wurde meine Großmutter geschieden. Sie ersuchte viele Male um eine Besuchserlaubnis im Gefängnis, aber alle Mühe blieb erfolglos. Sie konnte nichts über Abdurehim in Erfahrung bringen. Jahrelang. Erst viel später glaubte jemand gehört zu haben, dass er gestorben sei, doch ob es wirklich so war, wer konnte das schon wissen...

  ***

Bald wird es niemanden mehr geben, der aus dieser Zeit erzählen kann. Der alte Mann, den meine Mutter und ich bei der Moschee in Kucha getroffen hatten, war einer von wenigen, die es taten, aber es muss Tausende anderer geben, die Ähnliches zu berichten haben oder gehabt hätten. Sie sind unter uns, aber sie schweigen und nehmen einen Teil unserer Geschichte mit ins Grab. Sie ist für immer verloren, denn die Geschichtsbücher werden uns nicht erzählen, wie das Leben damals wirklich war.

 

Aus dem Uigurischen übersetzt von Nijat Hushur,

im Deutschen frei bearbeitet von Ingrid Widiarto