Auf der Flucht

 

Sie standen auf dem Dach der Welt und schauten zurück. Abdushukurs Beine zitterten vor Erschöpfung, sein Körper glühte unter dem feuchten Schweiß, der ihm in kalten Strömen den Rücken hinunterlief, und die Hände brannten vor Kälte. In seinem Kopf hämmerten Schmerz und Verzweiflung, und doch überkam ihn mit einem Mal eine wohltuende Woge von Taubheit und Vergessen.

 „Steh auf, Abdushukur, wir müssen weiter!“, riss ihn eine Stimme aus diesem Gefühl der Schwerelosigkeit.

 Abdushukur fuhr erschrocken auf. Sein Blick wurde klar. Er sah die schneebedeckten Berggipfel um ihn und auch die Gefahren und Ängste, die dort jenseits all dieser Berge, jenseits der großen Wüste, in seiner Heimat Ostturkestan drohten. Er sah seine Frau Sarigül, seine kranke Mutter, seinen kleinen Sohn, der nun ohne Vater aufwachsen würde. Er sah die Angst, die ihn noch immer, in jeder einzelnen Sekunde, an jedem Tag und in jeder Nacht, erbarmungslos verfolgte. Wie mochte es denen gehen, die er zurückgelassen hatte? Waren sie in Gefahr? Wurden sie verhört, gequält, bedroht? Würde er sie eines Tages wiedersehen, falls ihm die Flucht gelang? Und was wäre, wenn nicht...?

 „Abdushukur, komm! Wir müssen weiter und versuchen, einen Laster zu erwischen.“

 Denn es lagen noch immer mehr als vierhundert Kilometer vor ihnen und das konnten sie nicht zu Fuß bewältigen. Doch den ganzen Weg bis nach Zhangmuzhen, bergauf und bergab, in einer Höhe von drei- oder viertausend Metern, das war vollkommen ausgeschlossen. Vor einigen Stunden hatte sie der freundliche Fahrer, der sie von Rikaze aus mitgenommen hatte, am Straßenrand abgesetzt, kurz bevor einer der Kontrollpunkte in Sicht kam. Seitdem waren die beiden Männer über Felsen und Geröll gewandert, um eine Nebenstrecke zu erreichen, die weniger überwacht wurde als die gut ausgebaute Nationalstraße. So hatten sie Stunde um Stunde gefroren und geschwitzt. Trotz der Kälte wurde ihnen bei der Anstrengung unter den dickwattierten Jacken und dem schweren Gepäck heiß. Auch die dünne Luft machte Abdushukur zu schaffen. Er musste immer wieder stehen bleiben, um Atem zu holen, und hätte er nicht in Rikaze Izmet kennengelernt, dann wäre er in diesem eintönigen Gewirr aus Fels und Stein schon längst verloren gewesen. Hier gab es keine Dörfer, keine Menschen, die man nach dem Weg hätte fragen können. Nur die Sonne zeigte an, wo Süden war und in welche Richtung sie gehen mussten, um auf die alte Landstraße zu treffen.

 „Wir haben’s fast geschafft“, rief Izmet von weit oben. „Ich kann die Straße schon sehen... „Ist alles in Ordnung mit dir?“

 „Ja.“ Abdushukur war, als wollten Herz und Lunge zerspringen, doch die Aussicht, bald wieder in einem ruckelnden Lastwagen zu sitzen und die Beine ausstrecken und die brennenden Füße aus den schweißnassen Schuhen befreien zu können, verlieh ihm neue Kräfte. Er warf den Kopf zurück und eilte mit großen Schritten hinter Izmet her.

 Woher kannte der eigentlich den Weg? Wie konnte sich überhaupt jemand zurechtfinden, der nicht hier geboren war, sondern aus den sonnigen Oasen Ostturkestans kam? Ostturkestan... Abdushukur knickte ein, ein Stein löste sich und beinahe wäre er von dem Felsvorsprung gerutscht, den er gerade erklommen hatte. ‚Daran darfst du nicht einmal denken‘, mahnte er sich. ‚Vergiss es! Vergiss es – wenigstens, bis du in Sicherheit bist!‘

 Aber das Wort war plötzlich wieder in seinem Kopf und mit ihm auch all das, was ihn gezwungen hatte, China zu verlassen. Izmet hatte ihm erzählt, was geschehen würde, wenn man sie vor der Grenze nach Nepal aufgreifen würde. Er hatte es selbst erlebt. Er hatte von der Zeit gesprochen, die er im Gefängnis verbracht hatte, von den Verhören, Drohungen, Foltern... Am Ende hatte man ihm keine Verbindung zu islamistischen oder separatistischen Organisationen nachweisen können und ihn nach sechs Monaten frei gelassen. Er hatte Glück gehabt, denn auch ohne Beweise konnte ein Mann für immer in den undurchschaubaren Wegen des chinesischen Sicherheitssystems verschwinden. Das wussten sie alle.

 Seitdem hatte Izmet vielen Uiguren bei der Flucht geholfen. Er war in Indien und Nepal gewesen, kannte Leute im ganzen Land. Während der Monate im Gefängnis hatte er Männer getroffen, die Dinge wussten, die niemand wissen durfte, und Wege kannten, von denen kein Chinese etwas ahnte. Er hatte tibetische Freunde gefunden, ihr Verhalten und ihre Sprache gelernt und all dies nutzte er nun, um seinen Landsleuten in die Freiheit zu verhelfen.

 

Noch einmal alle Kräfte sammeln, dann hatten die beiden Männer die Straße erreicht, die sie weiter nach Westen führen sollte. Sie war in schlechtem Zustand, übersät von Schlaglöchern und Steinen, und wand sich in engen Kurven in die Höhe oder in die Tiefe. Nirgendwo schützte eine Befestigung vor dem Abgrund. Lastwagen schlichen langsam voran, als wären sie Schnecken. Riesige, gebrechliche Schnecken aus Blech und Stahl, die prustend dahinkrochen und stinkende Abgasfahnen hinter sich her zogen.

 Izmet winkte den Fahrern zu, aber die meisten von ihnen hatten schon Fahrgäste und beachteten ihn nicht. Endlich hielt einer an und ließ sie einsteigen.

 Der Fahrer hieß Palden. Er war weder jung noch alt, sein Alter ließ sich schwer schätzen, denn die tiefen Falten in seinem wetterbraunen Gesicht ließen ihn vermutlich älter aussehen, als er in Wirklichkeit war. Er trug eine dunkelblaue Wollmütze bis über beide Ohren gezogen und kaute Kaugummi. Palden schien immer Kaugummi zu kauen. Mehrere kleine Packungen lagen vorn auf der Ablage zwischen Papiertüchern und allerlei Zeug und rutschten bei jeder Kurve mit einem scharrenden Geräusch nach rechts oder nach links. Es war eine chinesische Marke. Abdushukur erinnerte sich, wie er selbst zum ersten Mal in seinem Leben ein richtiges Kaugummi probiert hatte. Es war die gleiche Marke wie diese gewesen. Er spürte noch den frischen Pfefferminzgeschmack im Mund und das herrliche Gefühl, diesen Geschmack aus dem weichen Gummi herauszukauen. Als Junge hatte er mit seinen Freunden Bitumenklumpen gekaut, die sie mit den Fingern oder einem kleinen Messer zwischen den Betonplatten des Basketballplatzes heraus gekratzt hatten. Die schmeckten nicht gut. Es war nur wegen des Kauens gewesen und wegen des Gefühls, schon fast ein Mann zu sein. Gelegentlich hatten sie auch Klümpchen von Harz aus der Rinde eines Toghrak-Baumes gelöst, die sehr salzig schmeckten und an den Zähnen festklebten. Erst viel später hatten chinesische Firmen begonnen, nach amerikanischem Vorbild Kaugummi herzustellen, und das war ein Luxus gewesen, den sich damals kaum ein Junge leisten konnte.

 

Es war dunkel geworden. Seit einer Weile hatte niemand mehr ein Wort gesprochen. Der Fahrer kaute an seinem Kaugummi und Izmet, der zwischen ihm und Abdushukur auf der Fahrerbank saß, schien nach der stundenlangen Kletterei vom Schlaf übermannt worden zu sein. Sein Atem ging ruhig und Abdushukur spürte, wie sich seine Schulter immer schwerer gegen seine linke Seite drängte. Er rückte ganz nah an die Wagentür und lehnte den Kopf gegen die kalte Scheibe. Zu sehen gab es nichts außer zwei schwachen Lichtkegeln auf der Straße und den beiden roten Rückleuchten des Lasters, der vor ihnen fuhr. Abdushukur fühlte sich erschöpft, einsam und traurig. Seit Wochen war er nun schon in diesen Bergen unterwegs, seit Monaten auf der Flucht, seit mehr als einem Jahr immer nur knapp der Hölle eines chinesischen Gefängnisses entkommen. Und wie viele Wochen, Monate oder Jahre lagen noch vor ihm?

 Abdushukur suchte nach ein wenig Wärme in seinem eigenen Inneren, denn in diesen bedrohlichen, kargen Bergen Tibets konnte man keine Wärme finden und in diesem ächzenden Lastwagen auch nicht. Allein Izmets Schulter, die sich immer schwerer gegen ihn drängte, war so etwas wie ein menschlicher Trost. Vor allem weil er den Weg in die Freiheit kannte. Abdushukur ließ sich einlullen vom Ruckeln und Rütteln des Wagens und seine Gedanken wanderten zurück in die Heimat, wo es früher einmal so schön gewesen war.

 Wie hatte aus dem fröhlichen Bauernjungen ein landesweit gesuchter Staatsfeind werden können? Hatte er etwas verbrochen? Nein, Abdushukur hatte nichts verbrochen, aber er hatte einen Traum gehabt: Er hatte das Schicksal seines Volkes verbessern, Verantwortung übernehmen wollen. Er war beseelt gewesen von einer Vision, die damals in den 1980er Jahren so nah und so realistisch erschien. Nach der furchtbaren Zeit der Kulturrevolution versprach sie endlich eine Zukunft in Vernunft und Freiheit.

 Er wusste im Grunde nicht viel über die Kulturrevolution. Er war damals noch ein kleines Kind gewesen und seine Eltern sprachen nicht über diese Zeit. Niemand schien noch daran zu denken und doch hatte Abdushukur das Gefühl, als legte sich jedes Mal ein Schatten über das ganze Dorf, wenn jemand von der Vergangenheit sprach. Mao galt noch immer als Held und Wohltäter der Nation, dessen Konterfei in jeder Schulklasse hing. Und als später nach und nach Berichte aus dem Ausland auftauchten, die von einem ganz anderen Leben erzählten, einem Leben in Freiheit und Wohlstand, und als erste Studentenproteste die Abschaffung der alten, starren Strukturen forderten, da hatte er den dringenden Wunsch verspürt, an diesem Aufbruch in eine neue Zeit teilzuhaben. Alte, starre Strukturen, das war etwas, worüber Abdushukur sich schon als Schüler geärgert hatte: Man musste immer nur auswendig lernen, wiederholen, nachsprechen, abschreiben. Niemals eine Frage stellen, niemals eigene Gedanken denken, niemals anzweifeln, was der Lehrer oder andere Erwachsenen sagten. Gab es denn nicht noch etwas anderes auf der Welt als Nachplappern? So wie er hatten damals viele junge Menschen gedacht.

 In jenen Jahren war Chinas Jugend aus einem Jahrtausende langen Tiefschlaf erwacht, hätte man meinen können. Jetzt, während der nächtlichen Fahrt durch die unwegsame Öde Tibets, auf dem Wege zur Grenze nach Nepal, erst jetzt glaubte Abdushukur die Bedeutung jener Studentenbewegungen richtig zu verstehen. Als Jugendlicher hatte er Freiheit gefordert, weil es im Geist der Zeit lag. Wie alle seine Kameraden hatte er endlich die alten Fesseln aufbrechen wollen. Aber nun, wo die Freiheit so nahe war, wurde aus dem bloßen Begriff „Freiheit“ plötzlich eine reale Zukunft, die einem beinahe Angst einflößen konnte. Was genau war Freiheit? Wie fühlt es sich an, frei zu sein? Bisher war Freiheit nichts als ein Schlagwort gewesen, etwas, was sich jeder wünschte, aber niemand in China besaß. Im Augenblick bedeutete sie für ihn vor allem, nicht verhaftet zu werden, aber was würde danach kommen? Noch dreihundert Kilometer und wer weiß wie viele Kontrollposten, dann würde sie nicht mehr nur das Ziel aller Träume sein, sondern eine Leere, die er selbst, er ganz allein, gestalten musste. Niemand würde ihm sagen, was zu tun sei. Weder Lehrer oder Familie noch Politiker oder Mullahs.

 Allein war er schon oft gewesen, sagte sich Abdushukur. In den vielen Stunden, in denen er sich im Stroh eines Schafstalls versteckt hatte oder durch die einsame Nacht gelaufen war. Aber da hatte er immer ein Ziel vor Augen gehabt: zuerst den Wunsch, seinem Volk zu helfen, später den Wunsch, das eigene Leben zu retten. Was aber würde sein, nachdem er die Grenze überschritten hatte?

 

Palden kurbelte das Fenster ein Stück herunter, um sein Kaugummi hinauszuwerfen. Ein eisiger Luftzug schreckte Abdushukur auf.

 „Hast du etwas gesagt, Palden?“

 „Nein. Ich frage mich aber gerade, ob ihr Moslems seid.“

 „Warum?“

 „Und Uiguren?“

 „Ja.“

 „Ist da noch was drin?“, brummte Palden und wies auf die kleine Packung mit chinesischer Aufschrift, die auf der Ablage hin und her rutschte. Abdushukur fingerte eines der Kaugummis heraus und reichte es ihm.

 „Ihr seht gar nicht gefährlich aus.“

 „Warum sollten wir gefährlich aussehen?“

 „So heißt es doch immer: Uiguren sind gefährlich... Moslems. Terroristen.“

 „Wir sind Händler und wollen in Zhangmuzhen Waren einkaufen. Sonst nichts.“

 „Hm.“

 Abdushukur wusste sehr wohl von den Vorurteilen in der chinesischen Bevölkerung, die von Regierung und Medien geschürt wurden, aber dass er ihnen hier in der Einöde Tibets begegnete, hatte er nicht erwartet, standen doch die Tibeter in ihrer Heimat unter dem gleichen Druck wie die Uiguren in Ostturkestan.

 „Glaubst du das denn?“

 „Weiß nicht. Hab’s nur so gehört. Eure Religion ist aggressiv.“

 „Gläubige Moslems sind nicht schlechter als Buddhisten.“

 „Kann sein...“

 Damit schien Palden das Gespräch für beendet zu halten, denn nun konzentrierte er sich wieder allein auf sein Kaugummi und die Straße vor ihm. Abdushukur jedoch klangen noch die Worte ‚Eure Religion ist aggressiv‘ in den Ohren. Das ist nicht wahr, sagte er zu sich selbst. Aber ganz Unrecht hat er ja auch nicht, denn es gab wirklich radikale Moslems, zumindest in den Nachbarländern, die Ostturkestan zu einem islamischen Staat machen wollten. Als er zum ersten Mal in einem Freizeitlager in den Bergen Memtimin Heziret hatte sprechen hören, da waren junge Männer wie er überzeugt gewesen, dass der Islam die Welt verändern und allen Uiguren Segen bringen würde. Es gab noch andere, sehr viel radikalere Bewegungen, doch die hatten ihn auch damals schon abgeschreckt, denn er wollte nicht nach den kommunistischen Machthabern von Imams bevormundet werden. Er wollte Unabhängigkeit und geistige Offenheit, und damals, nachdem China sich dem Westen geöffnet hatte, schienen Demokratie und Freiheit auch für die Uiguren zum Greifen nahe zu sein.

 Er hatte an Memtimin geglaubt, weil er aus der Türkei stammte, einem muslimischen Land, das seit Jahrzehnten demokratisch regiert wurde. Er hatte geglaubt, den richtigen Weg zu gehen, hatte sich engagiert, Mitstreiter angeworben, Flugblätter geschrieben, verteilt. Dann waren sie ins Visier der Geheimpolizei geraten. Und ehe sie sich’s versahen, waren viele seiner Kameraden verhaftet worden. Andere waren verschwunden. Er selbst hatte sich beinahe ein ganzes Jahr lang von einem Ort zum anderen durchgeschlagen, hatte bei Freunden, in Schafställen und Scheunen geschlafen. Wie ein flüchtiger Schwerverbrecher.

 Abdushukur mochte nicht länger daran denken.

 Es war nicht der richtige Weg gewesen. Es konnte gar keinen richtigen Weg geben, denn die Kommunistische Partei hatte Angst bekommen, ihre Macht zu verlieren, oder vielmehr waren die einen Parteiführer mächtiger gewesen als die anderen. Sie hatten Zhao Ziyang nicht seine Reformen durchführen lassen, sondern einen Rückwärtsgang eingeschlagen. Wäre es damals anders gekommen, müsste Abdushukur heute nicht bei Eiseskälte über die Berge des Himalayas ins Ausland fliehen.

 Der Laster nahm wieder eine dieser gefährlichen Kurven und Abdushukur dankte Allah, dass er im Dunkeln den Abgrund zu seiner Rechten nicht sehen konnte. Es war mittlerweile stockfinster geworden. Palden musste die Augen eines Luchses haben, denn er zögerte nie. Ein echtes Kind seines Landes, dachte Abdushukur und schmunzelte. Er mochte diesen schweigsamen, Kaugummi kauenden Tibeter, den es gar nicht störte, dass zwei gefährliche Uiguren neben ihm im Auto saßen.

 

Abdushukur lauschte auf das Ächzen des alten Lastwagens und verlor sich wieder in seinen Erinnerungen. Es war eine wundervolle Zeit gewesen, damals, als sie gemeinsam für ihre Ideale gearbeitet hatten. Sie hatten zusammengehalten, weil sie ein Volk waren und stolz auf ihre Herkunft, ihre Geschichte, ihre Kultur und ihr Land. Sie wollten sich selbst regieren. Die Volksrepublik hatte ihnen Autonomie versprochen, doch anstatt sie umzusetzen, wurden die Rechte der Uiguren von Jahr zu Jahr weiter beschnitten und nun mussten sie sich in ihrer eigenen Heimat beinahe wie lästige Fremde fühlen. Es hatte schon vor Jahren Proteste und Demonstrationen gegeben. In Urumchi. Auch in Ghulja und Baren. Später gab es die große Demonstration in Peking, denn auch in Zentralchina wollten die jungen Leute nicht länger von aller Verantwortung ausgeschlossen bleiben und verlangten politische Veränderungen. Doch dann war es auf dem Tian’anmen-Platz zu einem grausamen Eklat gekommen, der die ganze Welt aufhorchen ließ.

 Nein. Abdushukur bereute nicht, dass er für ein freies Ostturkestan gekämpft hatte. Es war ein guter und wichtiger Versuch gewesen, aber der Versuch war gescheitert.

 Palden trat vorsichtig auf die Bremse. Der Wagen rollte aus und blieb stehen. Weit in der Ferne konnte man winzige Lichter flackern sehen, wie Sterne, die vom Himmel gefallen waren.

 „Ein Posten?“, fragte Izmet, plötzlich hellwach.

 „Hm. Wollt ihr raus?“

 „Warum... Wir sind Händler, wir haben nichts zu befürchten.“

 „Wir gehen!“, entschied Izmet, ohne auf Abdushukurs Einwand zu achten, denn er wusste, wie leicht man hier mit einem falschen Ausweis Schwierigkeiten bekommen konnte. Abdushukur hatte von einem Freund in Shayar, der ihm ein wenig ähnlich sah, einen Ausweis gekauft und dieser hatte ihn dann als verloren gemeldet und einen neuen beantragt. Bis Lhasa war Abdushukur mit dem fremden Ausweis durchgekommen, aber je näher die Grenze kam, desto strenger wurden die Kontrollen.

 „Rechts liegt ein Dorf“, erklärte Palden. „Der Hang ist hier nicht sehr steil, ihr müsst nur den Weg finden.“

 Abdushukur wollte die Wagentür öffnen.

 „Wartet, es kommt ein Laster hinter uns.“

 Der hupte. Entweder zum Gruß oder weil er sich über die Behinderung ärgerte. Als er überholt hatte und die Rücklichter allmählich im Dunkel verschwanden, stiegen Abdushukur und Izmet aus.

 „Kurz hinter dem Dorf, wo der Weg wieder auf die Straße mündet, warte ich.“

 Abdushukur wollte ‚Danke‘ sagen, aber da hatte ihn Izmet schon von der Straße gezerrt.

 „Komm!“

 Wie konnte der Tibeter nur so gelassen und umsichtig sein! Er schien jeden Meter dieser unwegsamen Einöde zu kennen. Und wie wollte Izmet hier in der Finsternis einen Weg finden? Wie sollten sie ein unbekanntes Dorf durchqueren, wo vielleicht noch nicht alle Leute schliefen? Abdushukur hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber mit Sicherheit noch vor Mitternacht.

 Unterhalb der Straße kraxelten die beiden Männer den Hang hinunter. Da ein Dorf in der Nähe war, durften sie keine Taschenlampe einschalten, sondern mussten sich blind Schritt für Schritt einen Halt suchen, bis sie so etwas wie einen Weg erreichten. Ein Hund bellte. Sonst war nichts zu hören und zu sehen.

 „Bleib direkt hinter mir“, flüsterte Izmet. „Halte dich an meiner Jacke fest, damit wir uns nicht verlieren.“

 Leise tappten sie auf dem schmalen Weg voran. Sterne glitzerten am Himmel. So viele Sterne, wie man sie wohl nur in einer klirrend kalten Herbstnacht in den tibetischen Bergen sehen kann – oder in der Wüste Taklamakan, schoss es Abdushukur wie ein Blitz durch den Kopf. ‚Auch dort wird es nachts bitterkalt‘, sagte er zu sich selbst. ‚Aber ich darf jetzt nicht daran denken. Ich bin in Tibet und werde meine Heimat nie wiedersehen.‘

 Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wurde das Gehen ein wenig leichter und schon nach wenigen Minuten glaubten sie, vor sich einige Hütten zu erkennen. Dann war da das Scharren und Rascheln von Schafen, die in der Nähe ihren Stall haben mussten. Auf dem Weg aber war nichts zu sehen. Nichts regte sich. Auch der Hund hatte aufgehört zu bellen. Abdushukur hielt einen Zipfel von Izmets Jacke fest in der Hand und huschte so vorsichtig er konnte hinter ihm her.

 Bald hatten sie das Dorf hinter sich gelassen. Der Weg wurde wieder schmal und steinig, führte bergan, bis sie nach einer Weile das ferne Brummen und Fauchen von vorbeifahrenden Lastwagen ausmachen konnten.

 

***

Bikash huschte wie ein Wiesel zwischen den Bäumen hindurch. Abdushukur konnte kaum folgen. Er war nicht an bewaldete Berghänge gewöhnt, rutschte aus, hielt sich an Zweigen fest, versuchte unbeholfen, den vielen Stämmen auszuweichen, aber der Hang war sehr steil und schien gar kein Ende zu nehmen. Unter keinen Umständen durfte er den Mann aus den Augen verlieren, denn er war seine einzige Rettung.

 Nach der Ankunft in Zhangmuzhen hatten er und Izmet im Haus eines Sherpas Unterkunft gefunden. Eine winzige, düstere Kammer, aber man hatte ihnen Dhal Bhat[1] vorgesetzt und heißen Tee. Dann war Izmet allein fortgegangen. ‚Warte hier‘, hatte er gesagt, ‚ich suche jemanden.‘ Erst nach Stunden war er mit diesem Mann zurückgekommen, den er ihm als Bikash vorstellte. Er sei Händler, erklärte Izmet, stamme aus Kodari, jenseits des Flusses, pendle aber regelmäßig zwischen den beiden Orten hin und her. Ein Nepalese. Er spreche nur wenig Chinesisch, und da Abdushukur kein Nepali verstand, konnten sie sich kaum miteinander verständigen. ‚Am besten, du sprichst kein Wort!‘, hatte Izmet ihm am Morgen noch einmal eingeschärft. ‚Von jetzt an bist du stumm wie ein Fisch, verstanden? Sonst kriegt ihr alle beide Ärger.‘

Dann hatte er sich verabschiedet. Es war ein trauriger Abschied. Izmet hatte Abdushukur viele Tage begleitet und beschützt. Natürlich hatte er eine Menge Geld dafür bekommen, aber im Grunde war seine Hilfe unbezahlbar. Allein hätte es Abdushukur niemals bis hierher geschafft. Sie gaben einander die Hand, dann wandte sich Izmet um und ging fort. In den nächsten zwei Tagen musste sich Abdushukur nun allein auf Bikash verlassen. Und schweigen.

 ‚Ich habe viel geschwiegen, seitdem ich auf der Flucht bin, ging es Abdushukur durch den Kopf. ‚Ich habe viel nachgedacht, aber wenig gesprochen. Mit wem hätte ich sprechen können? Wem hätte ich trauen können? Den Chinesen nicht. Aber den Uiguren? Wie soll man wissen, ob man seinem Nachbarn trauen kann? Spitzel gibt es überall. Es soll ja sogar tibetische Mönche geben, die für die Regierung ihre Mitbrüder ausspionieren.‘

 Bikash war weit voraus. Obwohl er einen schweren Sack auf dem Rücken trug, lief er schnell und geschickt zwischen den Bäumen hindurch. Es war warm. Ungewöhnlich warm, geradezu heiß. Abdushukur hätte sich gern das Tuch vom Kopf gerissen, das ihm Bikash gegeben hatte, aber er war ja jetzt der taubstumme Diener eines nepalesischen Händlers und durfte nicht unvorsichtig sein. Er stolperte über eine Wurzel und rutschte aus. Auf dem Hosenboden schoss er ein Stück den Hang hinunter, bis er sich kurz vor Bikashs Füßen an einem Baum festklammern konnte. Der stand da und legte grinsend einen Finger auf den Mund. ‚Kein Ton!‘ hieß das. Dann wandte er sich um und lauschte.

 Da – das ferne Rattern von Lastwagen. Bikash hielt Abdushukur am Ärmel zurück. Mit der Hand wies er ihn an, dicht hinter ihm zu bleiben und auf seine Füße zu achten. Denn jetzt noch eine Rutschpartie und alles wäre vorbei. Überall konnten Wachtposten stehen. Die Straße von Zhangmuzhen führte über zehn Kilometer in vielen engen Serpentinen ins Tal des Bhote-Koshi-Flusses hinab, zur Brücke der Freundschaft, dem Grenzübergang zwischen China und Nepal. Und wer die Autostraße mied und durch den Wald zu Fuß den steilen Berg herunterkam, musste unweigerlich Verdacht auf sich ziehen. Erst im dichten Treiben des Marktes würden sie sich einigermaßen sicher fühlen können.

 Gemäß einem Abkommen zwischen den Regierungen beider Länder durften chinesische, tibetische und nepalesische Kaufleute, die innerhalb einer 30-Kilometer-Zone links und rechts der Grenze ihren Wohnsitz hatten, die Brücke ohne Pass und Visum überqueren, und so gingen Hunderte von Händlern hier täglich ihrer Arbeit nach. Da Bikash aus Kodari kam, besaß er den erforderlichen Ausweis und für Abdushukur hatte er am Tag zuvor nach vielen Erklärungen und Freundschaftsgeschenken ein Papier bekommen, das ihn für drei Tage als seinen Gehilfen auswies. Vorsicht war aber trotzdem geboten und so bogen die beiden Männer weiter nach links, um die Straße nicht überqueren zu müssen.

 „Nimm meinen Sack!“, sagte Bikash und Abdushukur verstand: Von jetzt an durfte niemand daran zweifeln, dass er der Träger eines nepalesischen Händlers war. Er lud das schwere Gepäck auf seinen Rücken. Wie konnte ein Mensch mit dieser Last flink und leichten Fußes einen steilen Berg hinabeilen? Viel mehr denken konnte er nicht, denn Bikash war schon wieder weit voraus, lief auf die Menschenmenge zu, die sich zwischen geparkten Lastwagen, kleinen Ständen und flachen Gebäuden, Karren, Kisten, Säcken und Bergen von unförmigen Gepäckstücken angesammelt hatte. Das musste der chinesische Grenzmarkt sein. Sie liefen weiter, Bikash voran, Abdushukur hinter ihm, tief gebeugt unter der schweren Last, mit gesenktem Kopf und nur auf die Füße seines Herrn achtend. Er wollte niemanden sehen. Er wollte sich so unsichtbar wie möglich machen. Gar nicht da sein. Doch der Sack auf seinem Rücken, seine eigene Tasche vor dem Bauch und das lästige Tuch auf seinem Kopf erinnerten ihn erbarmungslos daran, dass er sehr wohl da war und erbärmlich schwitzte. Während es in der Stadt Zhangmuzhen schon subtropisch warm gewesen war, obwohl sie auf einer Höhe von 2300 Metern liegt, empfand er die Hitze hier im Tal kaum noch erträglich.

 „Warte doch!“, hätte er beinahe laut geschrien, als Bikashs Beine zwischen anderen Beinen verschwanden. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich auf die Lippe beißen. Verzweifelt lief er weiter, so schnell er konnte. ‚Wie sahen seine Schuhe aus? Da... nein.‘

 Rums, er hatte seinen Vordermann angerempelt. Der drehte sich um und schimpfte in irgendeiner Sprache, die Abdushukur nicht verstand. Hastig drängte er sich an dem Mann vorbei, ohne eine Entschuldigung, ohne einen Blick. ‚Ich bin abscheulich, ich schäme mich, aber ich muss Bikash wiederfinden!‘

 „Wo bleibst du denn?“, schnauzte der ihn an. „Wozu habe ich dich angeheuert, wenn du ständig herumtrödelst?“

 Abdushukur hätte auch ihn beinahe umgerannt, weil ihm in seiner panischen Angst, im letzten Augenblick vor der rettenden Grenze doch noch gefasst zu werden, alle Füße, Schuhe, Sandalen vor den Augen verschwammen. Er verstand die Worte nicht, aber sie klangen zornig, und als er Bikash voller Erleichterung ins Gesicht strahlte, sah er, wie dieser auf den Sack mit seinen Waren deutete, als wollte er sagen: „Den brauche ich, nicht dich.“ Damit drehte er sich um und hetzte weiter.

 Verdutzt schaute Abdushukur ihm nach. ‚So gemein müsste er sich ja nun nicht aufspielen‘, dachte er ärgerlich. ‚Schließlich kriegt er einen Haufen Geld für dieses irrsinnige Theater.‘ Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als weiter hinterherzulaufen. Mal schnell, mal langsamer, Abdushukur achtete auf nichts als auf die Füße seines Herrn. Die anderen Menschen ließ er andere Menschen und die Landschaft eine Landschaft sein, den Markt ein heilloses Gedränge. Bikash blieb wieder stehen, sagte etwas, erhielt keine Antwort. Abdushukur wagte nicht den Blick zu heben. Und dann ging es schon weiter. Er glaubte, jeden Augenblick unter dem Gewicht auf seinem Rücken zusammenzubrechen, die Schultern, der ganze Körper schmerzten und überall lief ihm der Schweiß herunter. Da plötzlich packte der Nepalese Abdushukur am Arm und stieß ihm übermütig mit der Faust in die Brust.

 „Sieh! Die Brücke!“

 Er hatte Chinesisch gesprochen und verwundert sah Abdushukur auf. Bikash zwinkerte ihm aus verschmitzten Augen zu: Die Brücke, die Brücke über den Bhote-Koshi-Fluss. Am anderen Ufer lag Nepal!

 Bikash klopfte seinem Gehilfen grinsend auf die geschundene Schulter und eilte fröhlich weiter. Trotzdem wagte Abdushukur einen kurzen Blick zurück und sah über einem riesigen Schild die rote Fahne mit den gelben Sternen wehen.

 

Auch die Kontrolle auf nepalesischer Seite passierten sie ohne Schwierigkeit. Bikash schwatzte mit den Grenzsoldaten, als wären sie seine allerbesten Freunde und spottete offensichtlich mit ihnen über seinen neuen Träger, der nicht hören, nicht sprechen und nicht schnell laufen konnte. Dann schubste er Abdushukur grob vorwärts und rief: „Lauf, Junge! Ich hab Hunger.“ Die Männer hinter ihnen lachten.

 Nach kurzer Zeit hatten Bikash und Abdushukur den Tatopani-Basar erreicht, wo sie sich jedoch nicht aufhielten, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Was Bikash hier zu erledigen hatte, würde er später tun. Als sie noch ein Stück weitergegangen waren, nahm er Abdushukur den Sack vom Rücken. Abdushukur atmete tief durch, riss sich die Jacke vom Leib und das Tuch vom Kopf, trocknete die Stirn und betastete alle seine Glieder, die er kaum noch zu spüren glaubte. Als er sich wieder aufrichtete, sah er den Nepalesen bereits weit voraus dahineilen, so leichtfüßig als machte er nur eine kleine Bergwanderung. Seufzend folgte Abdushukur. Er verstand diesen Mann nicht, der die Mühen des Lebens mit Humor und Frohsinn anging und keine körperliche Erschöpfung zu kennen schien. Doch vermutlich war es gerade diese unbeschwerte Dreistigkeit gewesen, die ihn, Abdushukur, vor der Verhaftung bewahrt hatte.

 Bikash begleitete ihn noch eine Weile auf einem Weg am Fluss entlang, dem Abdushukur weiter folgen sollte, bis es auf der Straße weniger gefährlich war. Jenseits der Grenzzone, wo chinesische Sicherheitskräfte keinen Einfluss mehr hatten, könne er dann den Bus nehmen, der ihn direkt in Nepals Hauptstadt bringen würde.

 Dann blieb Bikash stehen, schaute Abdushukur ins Gesicht und lachte. Er schlug ihm auf beide Schultern, so dass sie vor Schmerzen zusammenzuckten, und wies mit einem aufmunternden Nicken voraus: „Kathmandu“. Und schon war er fort, zurück in Richtung Markt und seinen eigenen Geschäften.

Noch hundertzwanzig Kilometer bis Kathmandu.

 Hundertzwanzig Kilometer bis in die Freiheit.

***

Abdushukur lebt heute in Stockholm und arbeitet als Busfahrer. Er hat seine Frau und seinen kleinen Sohn nicht wiedergesehen. Sie hatten sich, nachdem Abdushukur in Schweden Fuß gefasst hatte, an der Grenze zu Indien verabredet. Sarigül hatte einen Pass und eine Reiseerlaubnis erhalten, doch im letzten Augenblick verweigerten die chinesischen Behörden ihr den Grenzübertritt. Sie waren nur wenige Kilometer voneinander entfernt, mussten aber jeder allein zurückkehren. Einige Jahre später heirateten beide wieder und haben jetzt eine neue Familie.

 

 

[1] ein in Nepal beliebtes Gericht, bestehend aus Linsensuppe, Reis und Gemüse