Iskandar hat Hörner

 

 

In dem Dorf Yanghe in der Turpan-Oase erzählt man sich folgende Geschichte[1]:

 

Einst lebte ein König, der hatte Hörner auf dem Kopf. Er ließ alle töten, die ihm das Haar schnitten und „Iskandar hat Hörner! Iskandar hat Hörner!“ riefen, wenn sie seine Hörner sahen, denn er fürchtete, dass sie es weitersagen würden. Eines Tages kam die Reihe an einen weisen Mann. Seine Frau weinte und sagte: „Was soll ich machen mit unserem Kind, wenn der König auch dich tötet? Was hat das überhaupt zu bedeuten? Warum lässt er jeden Barbier töten, der ihm die Haare schneidet?“ „Ach, lass mich nur gehen“, sagte der weise Mann, „vielleicht bleibt uns ja doch noch ein wenig Zeit.“ Er kämmte das Haar des Königs und sah die beiden Hörner. Vorsichtig betastete den Kopf und sagte: „Oh, mein Gott!“ Da fragte der König: „Was hast du gesagt?“ – „Der König der Welt hat eine Krone auf dem Kopf. Das ist wunderbar.“ Er arbeitete vorsichtig weiter und rief nochmals: „Oh, mein Gott!“ Der König fragte wieder: „Was hast du gesagt?“ Da antwortete der weise Mann: „Der König der Welt hat eine Krone auf dem Kopf.“ Der König freute sich: „Aha, ich sehe, du bist ein kluger Mann. Du wirst mir jetzt immer die Haare schneiden.“ Der König tötete ihn nicht, schenkte ihm Weizen, Reis und viele andere Dinge und schickte ihn mit den Worten fort: „Die anderen Barbiere haben gesagt, ich hätte Hörner, deshalb hab ich sie umbringen lassen.“ Da erwiderte der Weise: „Oh, König, du bist der einzige König auf der Welt, der ein Diadem im Haar hat.“ Die Frau des weisen Mannes staunte, als er heimkam, und fragte: „Wie ist es möglich, dass zu zurückkommst?“ Er wagte aber nicht, ihr die Wahrheit zu sagen, weil er sonst doch noch getötet würde.

 

Da er sein Geheimnis nicht aussprechen durfte, schluckte er es herunter. Er wurde sehr dick und ging eines Tages zu einem Arzt. Der meinte: „Du trägst ein schweres Leiden in dir. Du musst es wegwerfen.“ – „Das ist unmöglich.“ – „Dann geh an einen fernen Ort, häng dich in einen Brunnen und sprich es aus. Du trägst ein Geheimnis in dir.“ – „Gut“, sagte der Mann und stieg in einen tiefen Brunnen. Dann sagte er dreimal: „Iskandar hat Hörner“. Ehe er zu Hause ankam, war die Schwellung verschwunden.

 

Dort, wo der er die Worte ausgesprochen hatte, wuchs Schilfrohr aus dem Boden. Die Kinder des Hirten schnitten es und machten eine Flöte daraus. Als sie darauf spielten, erklang das Lied: „Iskandar hat Hörner“. Der König hörte es und fragte: „Woher habt ihr das?“ Die Kinder erklärten es ihm. Da fragte der König den weisen Mann: „Hast du es ihnen erzählt?“ – „Aber nein, König der Welt, ich hab es niemandem erzählt.“ Der König fragte nochmals die Kinder und sie sagten: „Spiel doch selbst.“ Der König nahm die Flöte und als er hineinblies, spielte sie: „Iskandar hat Hörner.“
Da gab der König dem weisen Mann sein Königreich und verschwand für alle Zeit.

 

Nun, ihr seht, es ist nicht klug, Geheimnisse mit sich herumzutragen.



[1] Abdurishid Yakup: The Turfan Dialect of Uyghur. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden, 2005, S. 337