Die unglaubliche Geschichte meines Namens

 Abdushukur Qumtur

 

Als ich auf die Welt kam, hielt die Kulturrevolution unser Land fest in ihrem Griff. Es war eine schwierige Zeit. Für alle Menschen in China war es eine schwierige Zeit, doch für uns Uiguren war sie besonders schlimm, weil wir nicht unseren Glauben ausüben durften. Die Moscheen waren geschlossen. Von Zeit zu Zeit hörte man von Verwüstungen, denn die Roten Garden durften alles zerstören, was mit Religion zusammenhing. Mao hatte ihnen gesagt, Religion sei konterrevolutionär, man müsse sie ausmerzen.

Doch wir Uiguren glauben an Allah, und obwohl es gefährlich war, machte sich meine Mutter heimlich auf die Suche nach einem weisen Mann, der die islamischen Regeln kannte und bereit war, mir nach altem Brauch einen Namen zu geben. Er nannte mich Abdushukur.

Abdushukur ist die uigurische Form der arabischen Namen Abdul (Diener) und Shukur (dankbar). Schon seit vor tausend Jahren der Islam in unser Land kam, haben wir arabische Namen übernommen und so abgewandelt oder miteinander verbunden, dass sie sich in die uigurische Sprache einfügen. Und da es in einem Hadith[1] heißt: In deinem Namen und im Namen deines Vaters wirst du vor Gericht gerufen werden, tragen wir Uiguren neben unserem eigenen Vornamen auch den Namen unseres Vaters. Familiennamen wie bei den Chinesen und westlichen Völkern gibt es in der Regel nicht. Da mein Vater Mamat hieß, wurde ich also als Abdushukur Mamat ins Familienbuch eingetragen.

Als ich drei oder vier Jahre alt war, fiel mir zum ersten Mal auf, dass die Leute in unserem Dorf meinen Namen ganz anders aussprachen als meinen Eltern: Sie sagten Äptüshükür anstatt Abdushukur. Das sei Kasachisch, erklärte meine Mutter. Aber erst als ich in die Schule kam, begriff ich, dass wir gar nicht mehr dort lebten, wo ich geboren worden war, sondern in einem kasachischen Dorf in der Nähe von Ghulja. Wir hatten in den Wirren der Zeit unsere Heimatstadt Kucha verlassen müssen, waren von einer sinnlosen Politik in den Norden vertrieben worden und lebten nun als einzige uigurische Familie unter Kasachen, die unsere Sprache nicht richtig aussprechen konnten. Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr hörte ich daher auf den Namen Äptüshükür.

Später erlaubte uns die neue Regierung nach Kucha zurückzukehren. Ich kam in die achte Klasse einer uigurischen Schule und war erstaunt und überglücklich, als ich zum ersten Mal in meinem Leben von allen Mitschülern und Lehrern mit meinem richtigen Namen angesprochen wurde. Es war ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde: Ich spürte voller Dankbarkeit, wie schön dieser Name klang. Ein uigurischer Name, der mein Name war. Der zu mir gehörte, wie meine Seele zu mir gehörte. Der mir ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit gab. Natürlich verblasste diese Euphorie der ersten Zeit allmählich, denn man gewöhnt sich an alles und besonders schnell an das, was man gern hat. Es war eine schöne Zeit. Ich war Abdushukur Mamat, Uigure und Sohn meines Vaters und ich lebte in dem Land, in dem mein Volk seit vielen Jahrhunderten zu Hause war.

Als ich dann die Universität abgeschlossen und meine erste Arbeitsstelle angetreten hatte, traf mich ein herber Schlag. Ich war Lehrer für uigurische Literatur und sprach wie alle anderen Dozenten dieser Fachhochschule mit meinen Studenten Uigurisch. Als ich am Ende des Monats meine erste Gehaltsabrechnung erhielt, stand darauf ein fremder Name. Ich dachte zuerst, es handele sich um eine Verwechslung, und wollte sie zurückgegeben, aber der Buchhalter fuhr mich zornig an:

„Können Sie nicht lesen? Natürlich ist das Ihre  Abrechnung!“

Ich sah wieder auf das Papier und versuchte die Wörter zu entziffern, die dort in chinesischen Zeichen und in Pinyin-Umschrift geschrieben standen: Abuduxikuer Maimaiti Kuerban. Keine uigurischen Buchstaben, kein Abdushukur Mamat.

„Warum ist mein Name so verändert worden?“, fragte ich den Buchhalter, der sich schon wieder über seine Arbeit gebeugt hatte und mürrisch aufblickte.

„Weil das jetzt Ihr chinesischer Name ist. Alle Namen müssen Chinesisch geschrieben werden!“

Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen traten. Ein weiser Gelehrter hatte meiner Mutter vor langer Zeit und unter großer Gefahr einen wunderschönen uigurischen Namen für mich ausgewählt und der sollte nun derart verunstaltet werden? Wie konnte sich ein Buchhalter so etwas erlauben?

„Das ist die Vorschrift!“ Mehr sagte er nicht. Ich ging.

Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Ich fühlte mich so elend wie ein verletztes Tier. Verloren und verachtet. Doch als ich den ersten Schock überwunden hatte, ging ich zurück ins Lohnbüro und fragte, was es mit dem Namen Kuerban auf sich habe. Dass man Abdushukur und Mamat nicht in chinesische Silben zwängen kann, das musste ich wohl oder übel einsehen, wenn die Vorschrift so lautete, aber wieso Kuerban? Woher kam dieses Kuerban?

„Ach, ihr Uiguren heißt doch alle Kurban“, erklärte der Buchhalter. „Da habe ich gedacht, es kann ja nicht schaden, wenn ich das hintendran hänge.“

Ich war sprachlos. Wut stieg in mir auf. Nicht nur, dass mein Name in eine unaussprechliche chinesische Form hineingepresst werden musste, nein, da hatte sich dieser Mensch auch noch erlaubt, mir einen beliebigen Einheitsnamen zu geben, weil wir Uiguren ja doch alle gleich sind! Welch eine Respektlosigkeit, welch eine Verachtung! Ich versuchte, meine Empörung in Zaum zu halten, zu bitten, zu erklären – langes Gerede, keine Einsicht, keine Entschuldigung. Aber im nächsten Monat war das „Kuerban“ von meinem Gehaltszettel verschwunden.

Von nun an trug ich also einen chinesischen Namen, der so lang und voller Vokale war, dass er weder Uiguren noch Chinesen leicht von der Zunge ging. Daher nannte man mich meist nur Abudu oder Xiku, was mir jedes Mal einen Stich ins Herz gab, denn ich war nicht Abudu oder Xiku, ein verstümmelter Chinese, sondern Abdushukur, ein Uigure, dessen Name eine Bedeutung hatte: „Dankbarer Diener Gottes“. Ich fühlte mich um meine Identität betrogen.

 

1990 ließ meine Schule für alle Mitarbeiter eine Identitätskarte ausstellen. An dem Tag, als ich sie vom Polizeibüro abholte, stand ich wieder ratlos da und schaute auf das kleine Ding, auf dem zwar mein Foto zu sehen war, aber nicht mein Name. Man hatte mich stundenlang warten lassen und mehrmals ärgerlich angeschnauzt, als ich nach dem Grund fragte. Und nun hielt ich endlich den neuen Ausweis in der Hand und staunte: Da stand weder mein uigurischer noch mein chinesischer Name, sondern wieder etwas anderes: „Abudu Shuekuer“: Abudu als Vorname und Shuekuer als Nachname. Mamat oder Maimaiti fehlte. „Zu lang“, bekam ich an den Kopf geworfen. „Das ist nicht unsere Schuld!“ Nächstes Mal könne ich ja den richtigen Namen angeben.
Das nächste Mal würde in zehn Jahren sein, denn Ausweise gelten immer für zehn Jahre.

Ich hatte Glück und durfte schon nach sieben Jahren eine neue Identitätskarte beantragen. Aber die Schwierigkeiten wollten trotzdem kein Ende nehmen: Jetzt waren zwar mein uigurischer Name und die Pinyin-Schreibweise meines chinesischen Namens korrekt, nur hatte man andere Schriftzeichen benutzt als zuvor.[2] Da nun in allen offiziellen Dokumenten, meinen Zeugnissen, Urkunden, Verträgen, Besitztiteln usw. unterschiedliche Namen und Schreibweisen standen, musste ich in diesen Jahren immer und immer wieder erklären und beweisen, dass dahinter ein und dieselbe Person stand. Das war nicht nur lästig und zeitraubend, sondern vor allem demütigend, denn es stand immer ein unausgesprochener Vorwurf im Raum: Ihr Uiguren mit euren unaussprechlichen Namen, alles durcheinander, unübersichtlich, suspekt... Ich hatte immer das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen, mich zu entschuldigen für Schwierigkeiten, die ich nicht selbst verursacht hatte. Im Gegenteil, sie waren mir so verhasst wie kaum etwas anderes auf der Welt.

 

Um ins Ausland reisen zu können, beantragte ich 2001 einen Reisepass. Ich lief mir beinahe die Füße wund, weil ich immer neue Papiere vorlegen musste, die meine Identität eindeutig bewiesen, aber eines Tages hatte ich es geschafft und schlug die erste Seite des kleinen Büchleins auf. In einem Reisepass der Volksrepublik China stehen selbstverständlich keine uigurischen, sondern nur chinesische Namen, und zwar in chinesischen Schriftzeichen und in Pinyin, weil man sie sonst im Rest der Welt nicht lesen könnte. Das wusste ich und ich hatte mich ja auch längst an meinen chinesischen Namen gewöhnt. Dass man aber die chinesische Reihenfolge der Namen beibehielt, d.h. unter Familienname den ersten Namen eintrug und unter Vorname den zweiten, also den Namen meines Vaters, das hatte ich nicht gewusst. Und ich konnte es kaum glauben, aber man hatte mich jetzt tatsächlich zu einem Herrn Abuduxikuer mit dem Vornamen Maimaiti gemacht! Eine Änderung war selbstverständlich ausgeschlossen. In zehn Jahren könne ich ja...

Ich fühlte mich so schlecht! Ich hatte das Gefühl, mich in diesem heillosen Namengewirr endgültig verloren zu haben. Ich schloss die Augen, weil ich nicht weinen wollte. Aber mein Herz weinte bittere Tränen, weil ich nicht mehr wusste, wer ich war.

 

Ich blieb in Schweden. Hier hatte ich gehofft, mich unter Vorlage meiner vielen Papiere mit meinem richtigen Namen anmelden zu können, doch dem war nicht so. Ich war als Maimaiti Abuduxikuer eingereist, so stand es im Pass und das war ausschlaggebend. Nicht ein altes Familienbuch. Also sagten alle Herr Abuduxikuer zu mir, obwohl sie es kaum aussprechen konnten.

Nach einigen Jahren kam auch meine Familie nach Schweden. Politische Verfolgung hatte uns auseinandergerissen, aber nun waren wir wieder zusammen. Ja, wir waren zusammen, aber nicht unsere Namen. Denn da auch in den Pässen meiner Frau und der Kinder die Namen verdreht worden waren, hatten sie unterschiedliche Familiennamen: eine Familie mit vier verschiedenen Namen. Wie oft wurde ich auf Reisen angehalten und gefragt: „Ist das Ihr  Kind? Ihr Name...“ War ich ein Kindesentführer? Stundenlange Kontrollen. Fragen, Erklärungen. Beweise.

Es ja nur recht, dass die Polizei Entführungen zu verhindern sucht, aber es ist nicht recht, dass chinesische Beamte willkürlich uigurische Namen verändern, weil sie ihnen zu fremd oder zu lang erscheinen.

 

Als wir nach einigen Jahren die schwedische Staatsangehörigkeit bekommen hatten, dachte ich, als Bürger eines Rechtsstaates eine Namensänderung beantragen zu können. Ich schrieb an die Meldebehörde, erklärte alles detailgenau, aber die Unterlagen reichten nicht aus und wir konnten nicht nach China zurück, um weitere Unterlagen zu beschaffen.

Doch dann erfuhren wir von einer weiteren Möglichkeit: Wir meldeten beim schwedischen Patentamt einen neuen Familiennamen an. Lange hatten wir nachgedacht und uns auf den Namen „Kucha“ geeinigt, weil Kucha unsere Heimatstadt war und weil unsere Nachkommen später einmal wissen sollten, wo ihre Wurzeln lagen. Doch auch das war nicht möglich, weil es den Namen Kucha bereits gab. Fünf Familien führten ihn. Wir überlegten uns also andere Namen, die in irgendeiner Weise mit Kucha in einer Verbindung standen, und überließen es dem Patentamt, einen auszuwählen, der noch frei war. Sie wählten Qumtur[3].

Ich bin meiner neuen Heimat Schweden sehr dankbar, dass wir als Familie unter einem gemeinsamen Namen zusammenfinden konnten. Aber vielleicht ist die abenteuerliche Geschichte meines Namens trotzdem noch nicht zu Ende, denn am liebsten trüge ich wieder den Namen, den mir einst ein weiser Mann in Kucha gegeben hatte.

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Diese Geschichte mag einem westlichen Leser merkwürdig oder sogar amüsant erscheinen, aber für mich war sie ein seelisches Desaster. Ich fühlte mich fast mein Leben lang wie ein Mensch ohne Wert, ein Wesen, dessen Name keine Bedeutung hat. Ein Nichts.

 

Aus dem Uigurischen übersetzt von Nijat Hushur,

im Deutschen frei bearbeitet von Ingrid Widiarto

 

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[1] Ausspruch des Propheten Mohammed, der nicht im Koran steht

[2]Es gibt in der chinesischen Sprache für gleichklingende Silben unterschiedliche Zeichen, die jeweils eine andere Bedeutung haben.

[3] Qumtur (Sandturm, Turm, der in der Wüste steht) ist der Name eines gut erhaltenen Wachturms nahe Kucha, der während der Han-Dynastie (206 v.Chr.- 220 n.Chr.) erbaut wurde.