Meine Seele und ich

Gedanken eines uigurischen Malers,

 

Ich bin in einem Dorf am Rande der Wüste Taklamakan aufgewachsen, und so lange ich zurückdenken kann, habe ich immer den Wunsch gehabt, das, was ich sehe, zu malen. Wenn ich ein Stück Papier fand, habe ich mit einem Stift darauf gemalt. Auf Steine habe ich mit anderen Steinen gemalt und in den Wüsten­sand habe ich mit meinen Fingern oder einem Stöckchen gemalt, und immer war ich glücklich, wenn ich etwas zu malen hatte. Damals, als ich klein war, lebte meine Seele im Überschwang kindlicher Fantasie. Sie kannte keine Grenzen, sie entfaltete sich wie ein wunderschöner Schmetterling, der seine bunten Flügel nur auszubreiten braucht, um in die große Welt hinauszufliegen. Sie sah in den Dingen, die andere Leute auch sahen, sehr viel schönere Welten, als diese anderen Leute es vermochten, denn meine Seele konnte über die Dinge hinaus schauen. Weil sie nämlich diese wundervollen Flügel hatte.

Doch dann kam ich in die Schule und in einer chinesischen Schule träumt man nicht von Farben, Düften und Wolken, sondern plappert gehorsam nach, was der Lehrer sagt. Ich wuchs heran, hineingepresst in starre Formen, mit den Scheuklappen des sozialistischen Systems und alter uigurischer Traditionen. Ich lernte, was ich lernen sollte, und meine Seele verkroch sich in einen unsichtbaren Winkel meines Seins. Ihre Flügel verloren ihre leuchtenden Farben, sie verkümmerten, bröckelten ab und ließen sie am Ende mit nur ein paar armseligen Stummeln zurück.

So saß das, was von meiner jungen, aufblühenden Seele noch übrig war, viele Jahre lang mit mir auf einer Schulbank und lernte sich still zu verhalten, bis ich irgendwann gar nicht mehr wusste, wo sie geblieben war. Ich wusste nicht einmal mehr, was eine Seele überhaupt ist und wozu man sie braucht. Brauchte man sie etwa, um Vorschriften einzuhalten, eine Prüfung zu bestehen oder zum Geldverdienen? Ganz gewiss nicht. Im Gegenteil, sie würde einen Künstler eher behindern als nützen, denn ein erfolgreicher Maler muss in China mit seiner Kunst entweder dem Ruhme der kommunistischen Partei dienen oder das darstellen, was reiche Bewunderer kaufen wollen. Im chinesischen Gesellschafotssystem hat eine Seele mit bunten Flügeln keinen Platz.

Die Jahre vergingen. Ich bestand alle Prüfungen der Kunstakademie, begann als Lehrer zu arbeiten und gab meinen Schülern das weiter, was ich im Studium gelernt hatte. Sie erwarteten nichts anderes von mir. Sie saßen da und taten das, was ich von ihnen verlangte. Nicht mehr. Sie kannten ja nichts anderes, als Vorgesagtes nachzusagen und Vorgemachtes nachzumachen, und wenn ich in ihre erwartungslosen Augen schaute und ihre Bilder sah, die eins dem anderen glichen, dann sträubte sich das Letzte, was von meiner Seele noch in mir war, und sagte: Das darf nicht sein! Das darfst du nicht zulassen! Was wird aus deinen schönen Kinderträumen, die du in Bilder verwandeln wolltest? Was wird aus mir, und was wird aus dir, wenn ich für immer erloschen bin? Kannst du dann glücklich sein? Und kannst du es verantworten, diese Kinder ohne den Schatz der Fantasie und Illusion aufwachsen zu lassen? Bist du sicher, dass das der Sinn deines Lebens ist? Wach auf, Junge! Wach endlich auf und mach dich auf den Weg zu entdecken, was Kunst wirklich bedeutet!

Mit der Zeit begann meine Seele immer heftiger an ihren Fesseln zu zerren, und je länger ich meine Schüler auf ihrem öden, ausgetretenen Weg begleitete, desto heftiger wehrte sie sich dagegen. Denn wenn sie auch ihre bunten Flügel verloren hatte, so da war sie doch immer noch da und sie begann mich mit einer unerklärlichen Rastlosigkeit zu quälen.

Sie wuchs und wurde stark. Aufbrausend, manchmal zornig. Ich spürte, wie ihr neue Flügel wuchsen. Sie waren nicht mehr leicht und bunt, sondern ungestüm und leidenschaftlich. Ich wollte ihr nicht nachgeben und konnte doch keine Sekunde aufhören, ihr zu lauschen. Ich schwankte zwischen Weinen und Wüten, war zerrissen zwischen einer Kraft, die ich nicht verstand, und der wohltuenden Sicherheit des vertrauten Weges. Und diesen geraden, bequemen Weg zu verlassen, erschien beinahe unmöglich.

Und doch wagte ich eines Tages den Schritt. Ich fuhr nach Deutschland und lernte an einer Universität, was freie Kunst ist. Über moderne Malerei hatte ich schon vieles gehört, was mich auf seltsame Weise faszinierte, aber recht verstanden hatte ich es nicht.

Früher einmal, vor langer, langer Zeit, hatte ich in meiner Fantasie Bilder aus Farben und Formen gemalt, die nicht Dinge, sondern Gefühle darstellten. War es das? War das vielleicht ein Ansatz zu abstraktem Malen gewesen? Ich hatte durch die realen Dinge hindurchgesehen und hinter ihnen etwas anderes, etwas sehr Schönes und sehr Wichtiges entdeckt. Zum Beispiel hatten sich Linien vor meinen Augen in Dschungelwege verwandelt und Schatten in Drachen; Farben waren zu Farben verschwommen, hatten sich verflüssigt und waren davongeflogen, und das alles hatte mir eine ungeheure Kraft verliehen. Eine Kraft, die natürlich auch nicht real war, denn ich war dadurch ja nicht stärker als andere Jungen geworden, aber irgendwie, tief in mir, in meiner Seele, hatte ich gespürt, dass ich eine Kraft besaß, die andere Menschen nicht besaßen. Und von der andere Menschen auch gar nichts hören wollten. ‚Träumerei‘, hatten sie gesagt und waren ihrer Arbeit nachgegangen.

Und nun sagte mir ein deutscher Professor: ‚Fangen Sie einfach an. Malen Sie, was in Ihnen ist.‘

Wie denn?

Wie soll man wissen, was in einem ist, wenn man noch nie darüber nachgedacht hat? Wenn man bisher nur den schmalen Weg gesehen hat, den alle gingen, weil man ja wie alle anderen sein Leben hinter Scheuklappen verbracht hat? Und wie soll man das, was man nicht kennt, mit einer leeren Leinwand in Verbindung bringen? Das sagte mir niemand. Das müsse ich selbst herausfinden, hieß es, denn niemand als ich selbst könne ja wissen, was in mir ist. Das klang plausibel und einfach, aber einfach war es nicht, sondern unglaublich schwer. Nie im Leben hatte ich mich vor einer so unlösbaren Aufgabe gesehen.

Wie bequem war es doch gewesen, Anweisungen und Vorbildern zu folgen und die Hände einfach das abmalen zu lassen, was die Augen sahen! Jetzt konnten mir meine Augen nicht weiterhelfen, und selbst wenn sie nach innen hätten sehen können, hätten sie dort nichts gefunden als Chaos und Verzweiflung.

Chaos und Verzweiflung. Monatelang irrte ich durch die Straßen, Ateliers und Museen der fremden Stadt. Ich suchte nach einem Anhaltspunkt, einem Neuanfang. Ich sammelte Eindrücke und Ideen, nahm alles in mich auf und speicherte es in Kopf und Seele ab. Ja, ich glaube tatsächlich, dass ich in diesen Monaten ganz allmählich wieder einen Zugang zu meiner Seele fand. Vorsichtig entfaltete sie ihre Flügel. Ganz langsam, als hätte sie Angst, noch ein zweites Mal zurückgestoßen zu werden. Ich versuchte, sie einzufangen. Ich experimentierte mit Pinseln, Farben und Techniken, ließ die vielen neuen Einflüsse durch meine Hand fließen und auf der Leinwand Gestalt annehmen.

Welch ein Erlebnis: Ohne jede Einschränkung durfte ich tun, denken und malen, was ich wollte!

Aber es war auch eine Tortur! Zwar beherrschten meine Hände alle handwerklichen Voraussetzungen und mein Kopf kannte alle Regeln und Theorien, doch meine Seele, die mich einst über Sanddünen und duftende Weingärten geflogen hatte, war fordernd und ungeduldig geworden. Sie stürmte mir weit voraus, wollte nicht länger warten. Ich fand sie nicht und sie fand nicht den Weg zu meiner malenden Hand.

Es war eine schwere Zeit. Das Suchen und Irren bereitete mir geradezu körperliche Schmerzen. Zu viele neue Möglichkeiten brachen über mich herein, wie Lawinen oder Steinschlag. Sie waren beängstigend, schön und betörend, sie versprachen Hoffnung und waren doch nur Trug. Ich suchte und versuchte, suchte und mühte mich, fiel zurück in Verzweiflung und sehnte mich nach der lieben alten Gewohnheit des Nachahmens, das so viel leichter gewesen war.

Aber ich gab nicht auf. Und irgendwann begann ich zu begreifen, was man unter ‚freier‘ Malerei verstand: All die vielen Künstler, die ich in ihren Werkstätten sah, machten etwas, was sie ganz von sich aus machen wollten. Sie hatten keine Vorbilder und keine Regeln. Sie verarbeiteten ihre eigenen Ideen zu den seltsamsten Bildern und Gegenständen, die bei weitem nicht alle schön waren. Nein, im Gegenteil, manches war hässlich und abstoßend, vieles verstand ich nicht und doch spürte ich, dass jeder Einzelne dieser Künstler etwas Ureigenes auszudrücken hatte. Sie waren reich! Sie waren kreativ und mutig. Sie waren frei.

Ich selbst war nicht frei. Freiheit muss man erst mühsam erlernen, wenn man nicht in ihr aufgewachsen ist. Doch mit der Zeit überlegte ich mir, dass ja auch ich etwas Ureigenes besaß, und zwar etwas, was keiner dieser deutschen Künstler besitzen konnte, nämlich drei Kulturen: Ich war geprägt vom chinesischen Erziehungssystem, mein Geist suchte nach europäischer Kreativität und meine Seele trug den Reichtum der uigurischen Kultur in sich. Wenn es mir gelänge, diese drei Welten in Einklang zu bringen, dann würde meine Seele zu mir zurückfinden und wir könnten gemeinsam etwas Neues schaffen, etwas Einzigartiges, nämlich das, was ich einst als Kind erträumt hatte.

In den letzten Jahren habe ich viele neue Wege ausprobiert und unterschiedliche Bilder gemalt. Einige waren gut, andere nicht. Aber wer weiß denn schon, was ein gutes Bild ist. Viele Künstler, Kunst­wissenschaftler und Philosophen haben sich mit dieser Frage beschäftigt und keine Antwort gefunden, die mich überzeugt. Für mich persönlich ist ein Bild nur dann ein gutes Bild, wenn es die Seele des Malers auf den Betrachter hinüberfließen lässt. Wenn es nicht nur ein Bild für die Augen ist, sondern etwas ausdrückt, was in ihm ist.

Und dieses innere Etwas zu finden und greifbar zu machen, das ist auch heute noch schwer für mich. Wenn ich vor einer leeren Leinwand stehe, weiß ich nicht, was ich darauf malen werde. Manchmal ist meine Seele da und dann ist alles ganz einfach. Dann folgen die Hände wie von selbst ihrer Eingebung und lassen mein Denken hinter sich zurück. Dann fliegt sie mir voraus, eilt mit kräftigen Flügelschlägen in eine unbekannte Welt, und erst wenn das Bild fertig ist, erkenne ich verwundert, dass es gut geworden ist. Aber manchmal steckt sie fest in den Wirren des Alltags, ist gefangen in Sorgen und großen Ideen und dann mühe ich mich vergebens, etwas Befriedigendes zustande zu bringen. Und manchmal muss sie mir tadelnd auf die Finger klopfen, weil meine Hand in alte Gewohnheiten zurückfällt oder meine Gedanken glauben, klüger zu sein als sie. Doch sie ist stark. Sie hat wieder Flügel bekommen und wird mich mitnehmen in eine Kunst, die mein Kopf noch immer nicht voll erfassen kann. Aber ich weiß genau, dass sie keine Ruhe geben wird, wenn wir nicht gemeinsam an unseren Bildern arbeiten:

Meine Seele und ich.