Ramadan im Gefängnis
Abduweli Ayup
Ich war 15 Monate im Gefängnis, weil ich einen uigurischsprachigen Kindergarten für Drei- bis Sechsjährige Kinder gegründet hatte. Meinen ersten Ramadan verbrachte ich dort ohne Fasten, aber mit Beten, ohne Wudu[1], aber mit dem Aufsagen von Worten, die ich nicht sagen wollte.
An die Zellenwand hatten wir mit Fingernägeln einen Kalender geritzt. Jede Nacht, wenn die anderen schliefen, durfte einer der beiden wachhabenden Häftlinge das alte Datum löschen und überschreiben. Das war eine begehrte Aufgabe. Manchmal gab es sogar Streit deswegen, denn es war immer ein erhebendes Gefühl, einen Tag wegstreichen zu können, bedeutete es doch, dass man der Freilassung um einen Tag nähergekommen war. Diejenigen, die zu lebenslanger Haft verurteilt waren, machten sich weniger aus dem Daten-Löschen als wir anderen und das war ja wohl verständlich.
Ich erinnere mich gut an den Tag, als ich nachts um 1 Uhr zur Wache geweckt wurde. Als ich vor dem Kalender stand, entdeckte ich, dass jemand über den 28. Juni einen Halbmond und darüber einen kleinen Stern gemalt hatte. Mich durchfuhr ein Riesenschreck. Die Zeichnung war zwar sehr klein und kaum erkennbar, aber was wäre, wenn sie auch ein Wächter gesehen hatte?
Mein Herz begann zu rasen. Ich schaute mich zu den Schlafenden um. Es musste einer der Neuankömmlinge gewesen sein, denn niemand, der wie ich als „gefährlich” eingestuft und schon über ein Jahr hier drin war, hätte den Mut zu so etwas gehabt. Denn wo immer wir in unserer kleinen Zelle waren, jede unserer Bewegungen wurde von den ewig summenden „Augen” verfolgt. Keinen einzigen Schritt konnte man unbeobachtet tun.
Am Morgen vor dem Ramadan war ein Aufseher in die Zelle gekommen und hatte uns gewarnt, in den kommenden Wochen zu fasten. Alle Uiguren hatten sich auf den Boden knien müssen und dann hatte er den chinesischen Gefangenen erklärt, was Fasten ist und wie man erkennt, ob jemand fastet.
Früh am Morgen des 28. Juni erscholl das Lied “56 Volksgruppen sind wie 56 Rosen”, was bedeutete, dass es Unterricht geben würde, obwohl das an Samstagen und Sonntagen eigentlich nicht üblich war. Die Chinesen fluchten verärgert, die Uiguren sagten kein Wort. Das einzige Geräusch, das sie von sich gaben, war das Rasseln ihrer Fußketten.
An diesem ersten Tag des Ramadans lauschten wir zuerst einer Rede aus dem Lautsprecher, in der erklärt wurde, wie die Kommunistische Partei die Uiguren von brutalen muslimischen Herrschern befreit hatte. Wir waren 19 Häftlinge. Die meisten in dem orangefarbenen Anzug der uigurischen politischen Gefangenen, und ein paar Han-Chinesen. Alle Uiguren saßen am Boden, die Füße in Ketten, den Kopf kahl rasiert und das Gesicht voll Traurigkeit. Anschließend sahen wir einen Fernsehfilm, in dem berichtet wurde, dass derzeit in Xinjiang viele illegale Gruppierungen den Ramadan missbrauchten, um das Gesetz des Staates zu brechen und der Kommunistischen Partei und dem nationalen Bildungssystem zu schaden.
Von meinem Platz in der hintersten Reihe hatte ich den ganzen Raum im Blick und konnte die bedrückende Atmosphäre geradezu fühlen: Die Männer in Orange saßen zusammengekauert und schreckensstarr da, die anderen fläzten sich lässig hin, tuschelten miteinander oder riefen sich von einem Ende zum anderen dumme Bemerkungen zu.
Gegen 10 Uhr kam der Wärter namens Wang herein. „Zählen!”, brüllte er. Da ich zuletzt Nachtwache gehabt hatte, musste ich vortreten und ihm die Anwesenheitsliste geben. „Wer könnte möglicherweise fasten wollen?”, fragte er. Ich berichtete: „Es sind 16 uigurische politische Gefangene, 1 uigurischer Dieb, ein Hui[2] und 1 Kasache, also 19.” „Ich habe gefragt: „Wer könnte fasten? Also, warum nennst du den Hui und den Kasachen?” Meine Knie wurden weich, aber ich versuchte mich zu beruhigen und antwortete: „Kasachen und Hui sind auch Moslems. Sie tragen zwar nicht den orangefarbenen Anzug der Politischen, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht vielleicht fasten wollen.”
Wangs Gesicht verfärbte sich dunkelrot. „Oh nein, jetzt gibt’s Ärger”, sagte ich zu mir und er brüllte: „Komm mit!” Die beiden Mitgefangenen, die für Disziplin zuständig waren, schlossen die Kette um meine Füße und legten mir Handschellen an.
Es war wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich hatte keine Zeit, irgendetwas zu denken. Ich ging Wang voraus und je weiter ich ging, desto schlimmer schmerzten mich die Fußketten. Die Flure nahmen kein Ende, endlose Dunkelheit, Fragen schossen mir durch den Kopf: Warum nehmen sie das nur so furchtbar wichtig? Oder hatte vielleicht doch jemand gefastet? Drei Kameras in der Zelle beobachten uns ohne Unterlass und die Fußketten hinderten uns am Wudu, jeder aß jeden Morgen sein chinesisches Brot und Suppe, während der Wärter durch das Loch in der Zellentür zuguckte. Wie hätte da jemand fasten können? Das war unmöglich. Oder was hatte ich sonst verbrochen? Einmal, als ich gerade auf der Toilette saß, hatte Wang „Achtung!” gerufen. Ich war sofort aufgesprungen, hatte eilig meine Hose hochgezogen und mich in die Reihe gestellt. Aber ein paar Sekunden zu spät und Wang hatte mich mit einem grimmigen Blick gestraft. War es vielleicht das?
Als ich die vielen Ketten in Wangs Büro sah, die Fesseln und die fünf Elektroschocker an der Wand, wurde mir speiübel. Jeder dieser Elektroschocker hatte genug Power für 20 Minuten Folter. Das bedeutete, man konnte mich mindestens 100 Minuten lang damit quälen. Wenn sie das tun, dachte ich, dann werde ich alles auskotzen, was ich jemals im Magen gehabt habe. Die Haut wird sich vom Fleisch lösen und es dauert Wochen, ehe sie nachwächst. All dies dachte ich bei mir, mein Körper bebte, meine Zähne schlugen aufeinander, der Schweiß brach mir aus allen Poren.
Wang sagte kein Wort. Er schaltete seinen Computer an und ich sah auf dem Bildschirm eine Aufzeichnung unserer Zelle. Ich stand gedankenverloren vor der Wand. Gheyret, der Dieb, kam zu mir, las etwas von der Wand und wischte sich dann mit den Händen übers Gesicht. Dann ging er zum Waschbecken und spülte sich dreimal den Mund, wusch sich dreimal das Gesicht. Dann ging er zurück an seinen Platz.
Wang spulte vor und zeigte mir, wie Gheyret beim Frühstück sein Brot aß und sein Wasser trank, wie er später seinen Finger in den Mund steckte und alles in die Toilette erbrach. Wang warf mir einen bösen Blick zu und spulte zurück auf den 24. Juni. Gheyret kam mit seinem Notizbuch zu mir und wir gingen ein paar Schritte. Ich schüttelte den Kopf, er bettelte und dann schrieb ich etwas in sein Buch. Die Aufnahme ging wieder ein Stück vor: Gheyret schrieb die Wörter aus seinem Notizbuch an die Wand. “Oh nein!”, dachte ich verzweifelt.
Und dann erinnerte ich mich daran, dass Gheyret mich einmal gebeten hatte, ihm etwas über Sahur und Iftar[3] und die Fastengebete beizubringen. Ich hatte zuerst abgelehnt, aber er bettelte weiter und erklärte, dass er später, wenn er wieder frei sei, ein besserer Mensch und ein gläubiger Moslem werden wolle. Er würde dann nie wieder Sünden begehen. Da hatte ich gedacht, dass es doch gut wäre, so einem 18-jährigen Burschen auf die rechte Bahn zu helfen. Er hatte etwas gestohlen, um Drogen kaufen zu können. Wenn der Glaube ihm in Zukunft helfen könnte, von den Drogen abzulassen, dann müsste das doch eine gute Sache sein.
Also schrieb ich ihm einige Fastengebete auf, vorsichtshalber nicht in uigurischer Schrift, sondern in Lautschrift, weil ich das für unverfänglicher hielt. Ich hatte allerdings nicht an die drei „Augen” gedacht, die in unserer Zelle ständig alles aufzeichneten. Wie hatte ich das nur vergessen können? Und warum hatte er alles an die Wand schreiben müssen?
Mir wurde ganz schwach vor Angst. „Und was ist das?”, brüllte Wang. „Warum belügst du mich?” Er griff nach einer der Ketten, und ehe ich mich’s versah, schlug er mir damit über den Kopf. Ich fühlte, wie mir etwas Warmes vom Nacken zur Schulter und dann über die Brust lief und dann sah ich, dass es Blut war. Er hatte mir das Ohr halb abgerissen, erklärte später der Gefängnisarzt.
Die Wachen drückten mich auf die Pritsche, als würden sie ein Lamm zur Schlachtbank bringen. Ein Mann in weißem Kittel kam mit einer großen Nadel in der Hand und beugte sich über meinen Kopf. Ich schloss die Augen, hörte, wie sich die Nadel durch meine Haut bohrte. Ich wollte schreien, aber eine Hand presste sich auf meinen Mund. Vier Männer hielten mich fest gepackt, doch mein Körper zitterte immer noch.
Als mein Ohr geflickt war, ging es mir etwas besser und ich erinnerte mich an einen Roman, in dem uigurische Intellektuelle 1940 gegen die chinesischen Nationalisten kämpften[4]. Kenji, der Anführer, wurde verraten und gefasst. Er wurde gehäutet und in Salz geworfen, exekutiert. Ich sah auf meine Hände: Alle Fingernägel waren noch da. Kenji waren sie ausgerissen worden. Ich hatte keine Elektroschocks bekommen wie im August 2013, meine Haut hatte sich nicht abgepellt und ich lag in einem normalen Bett. Kenjis Bett war mit Nägeln gespickt gewesen. Ich war nicht halb so viel gefoltert worden wie er. Und doch dachte ich bei mir: Kenji und seine Freunde waren für die gleiche Freiheit gestorben, für die auch wir heute kämpfen …
Plötzlich wurde der Wärter aus dem Krankenzimmer gerufen, weil ein pakistanischer Krimineller, der vom Richter zum Tode verurteilter worden war, sich weigerte zu essen und die Magensäure lief ihm schon aus dem Mund. Ich sollte zum Übersetzen kommen und ihn überzeugen, dass er unbedingt essen müsse. Er war nämlich der große Star des Gefängnisses. Ich glaube wegen irgendwelcher Bruderschaftsverbindungen zwischen China und Pakistan. Deswegen wurde er immer wie ein rohes Ei behandelt, bekam gutes Essen und Zigaretten von den Wärtern. Er war in China gefasst und zum Tode verurteilt worden und das bedeutete: Er war für das Gefängnis ein riesiges diplomatisches Problem.
Wann immer er Probleme machte, war das für mich gut, denn dann kümmerte sich niemand mehr um Fasten oder sonst was. Dann schauten sie alle auf mich, weil ich der Einzige war, der sich auf Englisch mit ihm verständigen konnte. Ich verbrachte an diesem Tag mehrere Stunden bei ihm, bis ich ihn endlich so weit hatte, dass er aß und trank.
In diesem Ramadan im Gefängnis habe ich viel „gelernt“. Ich verbrachte ihn ohne Fasten, aber ich habe dreimal am Tag vor dem Essen gebetet: „Lang lebe die Kommunistische Partei, lang lebe unser großes sozialistisches Land und lang lebe Xi Jinping.“ Wir beteten für diese Dreieinigkeit ohne Wudu. Wir rezitierten Propagandasprüche und sagten Worte, die wir nicht sagen wollten.
Aus dem Uigurischen von Abduweli Ayup und Ingrid Widiarto
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[1] kleine rituelle Waschung im Islam zur Erzielung der rituellen Reinheit
[2] chinesischsprachiger Moslem
[3] Morgen- und Abendmahlzeit im Ramadan
[4] “Half hitted bullet”